Heft 856, September 2020

Aufklärung und Kapitalismus (II)

Kaufmännisches Rechnen von Heinrich Bosse

Kaufmännisches Rechnen

Kleinjogg baut reichlich Bohnen, Erbsen, Kohl und andere Küchengewächse an, nicht wegen der Vitamine, sondern weil er rechnet. Mit dem Gemüse nämlich kann er den Sommer über seine große Familie ernähren. Die Nachbarn dagegen essen ihr Getreide als Mehl, Grütze und Brot das Jahr über zu ihren Mahlzeiten auf, das heißt sie verzehren den Vorrat, »welcher ihnen das nöthige Geld zu den Unkosten, welche die Verbesserung erfodert, zuwegebringen sollte«.1 Die Marktwirtschaft ist auf dem Küchentisch der Selbstversorger angekommen und wird nicht aufhören, den Haushalt zu verändern, bis alle unsere modernen Haushalte nur noch von Warenbeziehungen erfüllt sind.

Kleinjogg ist ein Selbstdenker, er hat, schreibt sein Promotor, der Zürcher Stadtarzt Hirzel, »seine Vorzüge der Natur und seinem Nachdenken zu verdanken; er blieb vergnügt bei seinem Stand«. Dieser ländliche Sokrates (»le Socrate rustique«), wie er schon 1762 international bekannt wurde – Goethe hat ihn zweimal besucht –, will seinen Stand verbessern, nicht verlassen. Die Ökonomische Aufklärung hatte mit der Besorgnis zu kämpfen, aufgeklärte Bauern würden nicht mehr so hart körperlich arbeiten wollen. Insofern wird Jakob Guyer aus Wermatswil, sieben Stunden Fußweg von Zürich, begrüßt als Bundesgenosse der Ökonomischen Kommission der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft, wo er über praktische Verbesserungen mitredet. Das kann er, weil er begriffen hat, dass Verbesserungen außer Arbeit auch Kapital verlangen, sei es noch so klein. Verbesserungen kosten Geld, damit sie mehr Geld einbringen.

Verbesserungen sind deshalb notwendig, weil die kultivierte Natur sich in ihren Hervorbringungen erschöpft. Hierauf antwortete die traditionelle und gemeinsame Wirtschaftsform der Dreifelderwirtschaft: ein Jahr Wintergetreide (Roggen, Weizen), ein Jahr Sommergetreide (Hafer, Gerste), ein Jahr das Erdreich mehr oder weniger in Ruhe lassen (Brache). Dieses für die Selbstversorgung quasi verlorene Jahr wollte die Ökonomische Aufklärung wieder einfangen, sei es durch Fruchtwechselwirtschaft mit Klee und anderen Futterpflanzen, sei es durch eine verbesserte Düngung, oder wie auch immer. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchte der englische Gentleman Jethro Tull, ohne Dünger zu wirtschaften; er setzte Menschen- und Pferdekraft ein, um das Erdreich viermal pro Jahr durchhacken und in Reihen besäen zu lassen. Am Ende des Jahrhunderts wusste man es besser: Alle zur Verwesung geeigneten Substanzen aus dem Tier- und Pflanzenreich pushen das Wachstum, Abfälle wie die der städtischen Bierbrauer, Metzger oder Seifensieder ebenso wie Modder und Tang aus dem Wasser.

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