Heft 891, August 2023

Der gelehrte Stand

Die Akademiker verleugnen ihre Vergangenheit von Heinrich Bosse

Die Akademiker verleugnen ihre Vergangenheit

Nehmen Sie die Gurlitts zum Beispiel.1 Aus dem Halbdunkel des Hörensagens tauchen Mitte des 18. Jahrhunderts zwei schlesische Bauernsöhne auf, Brüder oder eher Vettern, nachweisbar in Leipzig. Der eine wird Bürger und Schneidermeister, der andere muss das halbe Bürgergeld schuldig bleiben und führt eine prekäre Existenz ohne Berufsangaben. Die Kinder des Schneidermeisters, Söhne wie Töchter, bleiben im Handwerk. Nur einer von ihnen, Johann Gottfried Gurlitt (1754 bis 1827), geht auf die Schola Thomana in Leipzig, studiert und gelangt als Direktor des Johanneums in Hamburg an die Spitze des Bildungswesens. Von den Söhnen des Halbbürgers geht einer nach Altona. Dessen Sohn Johann August Wilhelm (1774 bis 1855), Golddrahtzieher, wird brotlos, weil die Männer des napoleonischen Empire keine Tressen und die Frauen keine Goldgürtel mehr tragen wollen, doch gelingt es ihm schließlich, mit seinen »Gurlitt-Tropfen« den Apotheken Konkurrenz zu machen. Er kauft ein Klavier und bezahlt den zehn überlebenden Kindern (von achtzehn) aus zwei Ehen großzügigen Privatunterricht.

Der akademische und der bürgerliche Aufstieg sind zwei verschiedene Muster sozialen Aufstiegs. Johann Gottfried verlässt das Handwerksmilieu, um zu lernen, finanziert von seinem Vater, dem Schneidermeister. Er hätte gern auf der Universität als magister legens Privatvorlesungen in Leipzig gehalten, doch da stoppt der Geldzufluss. Er wird also ein Schulmann und Gelehrter, der versucht, um 1800 in Hamburg das preußische Abitur einzuführen (was endgültig aber erst mit der Reichsgründung 1871 gelang). Frau und Kinder hatte er nicht, dafür Ruhm und Ansehen bei Schülern und Lesern. Umgekehrt der Familienmensch Johann August Wilhelm. Auch er verlässt das Handwerk, aber aus Not, er probiert sich als Schreibmeister, Lebensmittelhändler, bleibt auf den Schulden sitzen, bis er als Hersteller und Lieferant der gutgehenden »Gurlitt-Tropfen« zuletzt sein eigener Unternehmer wird. Grob zusammengefasst: Den akademischen Weg nach oben muss jemand anderer bezahlen, den bürgerlichen Weg nach oben muss ich selbst erwirtschaften. Oben angekommen (Johann Gottfried G.) beziehungsweise in der Mitte angekommen (Johann August Wilhelm G.), sind beide wohlhabend.

Von den Söhnen Johann August Wilhelms errang Theodor Ruhm als Maler, Cornelius etwas weniger Ruhm als Musiker und Emanuel lokales Ansehen als Uhrmacher und Bürgermeister von Husum. Theodors Sohn, Dr. phil. Ludwig Gurlitt, beschrieb den Aufstieg der ganzen Familie in der Biografie seines Vaters (1912) als ein Zeichen familiärer Tüchtigkeit und sah mit Stolz auf die Reihe seiner Geschwister: zwei Professoren, er selbst als Gymnasialprofessor, ein Bankier, ein Kunsthändler, die alle aufs Gothaer Gymnasium gegangen sind; eine Schwester, die auf die Höhere Töchterschule ging. Willkommen im Bildungsbürgertum. Willkommen auch bei den Aufstiegsgeschichten, die den akademischen und den bürgerlichen Weg nach oben in eins zusammenwerfen. Fast alle Akademiker von heute könnten sie so oder ähnlich erzählen. Der Grund? Sie spielen alle in den letzten zwei oder drei Jahrhunderten und sind also synchron mit dem Aufblühen des Kapitalismus. Wir alle leben besser und länger als unsere Vorfahren, wir sind reicher, wir alle zehren vom exponentiellen Wachstum der Wirtschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.

Die aufgestiegenen Gurlitts haben »etwas Besseres« erreicht und dabei viel hinter sich zurückgelassen, die gestorbenen Kinder, jene schlesische Verwandtschaft der Pächter, Häusler und Tagelöhner, das städtische Handwerk, die vielen Allerweltsberufe. Was nicht erzählt wird: dass die Akademiker schon seit dem Mittelalter etwas Besseres waren, weil sie »das Privilegium der geistigen Arbeit« (Hofmannsthal) genossen und also, mit Brecht, zu den Herrschenden gehörten. Stattdessen bestärken uns die mythischen Geschichten darin, dass »wir alle zusammen« das Elend des Feudalismus hinter uns gelassen haben. Das Elend des armen Soldaten Ulrich Bräker aus dem Toggenburg, das Elend des armen Schülers Anton Reiser, von dem sein Autor, also er selbst, sagt, dass er in Wahrheit von der Wiege an unterdrückt war. Die Demütigungen eines Hofmeisters, der sich selbst kastriert (Lenz), oder die eines Sekretärs, der aus der adligen Abendgesellschaft vertrieben wird (Goethe).

Diese Geschichten sind wahr, aber auch mythisch, aus dem einfachen Grund, weil die Vergangenheit der bürgerlichen Akademiker nicht dieselbe ist wie die der bürgerlichen Bürger. Wenn die bürgerlichen Historiker uns den Weg aus der Vergangenheit in die Moderne erzählen, nach dem Muster der Familiengeschichte, verleugnen sie diesen historischen Unterschied. Und wozu sollten wir den kennen? Ich antworte: Es ist für uns, Akademiker oder nicht, notwendig zu wissen, dass wir nicht immer schon in dieser Welt der ökonomischen Unterscheidungen gelebt haben, die sich uns als historische Befreiung präsentieren. Der kapitalistische, also endlose Weg nach oben muss ein Fragezeichen bekommen. Hierzu möchte ich etwas über die lateinische Vergangenheit der Akademiker sagen, dann hören, was die Soziologen meinen, sodann die Ära der Rechtsungleichheit in Erinnerung rufen und im Gegensatz dazu das, was man heute sagt. Sollte die Gegenwart unserer Universitäten wirklich nichts zu tun haben mit der standesspezifischen Vergangenheit der Akademiker?

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