Heft 847, Dezember 2019

Aufklärung und Kapitalismus

Meditation über einen Zusammenhang von Heinrich Bosse

Die Aufklärung hat mit Wirtschaft mehr zu tun, als man denkt. Gewiss, sie ermahnt zum Selbstdenken, aber ebenso dazu, das Zusammenleben der Menschen kritisch zu beobachten. Dabei entdeckt sie ganz neue Gegenstände. Die Gesellschaft, zum Beispiel, nun nicht mehr eine Summe von Haushalten oder von Korporationen, sondern ein Gefüge von Arbeitsverhältnissen. Und auch die Rahmung dieser Gesellschaft, nämlich im Wirtschaftsraum einer Nation. Was ihr dabei voranleuchtet, ist die Politische Ökonomie.

Politische Ökonomie besagt, dass das Missverhältnis zwischen öffentlichen Ausgaben und Einnahmen das ganze Gemeinwesen angeht; dass also der Haushalt der Regierenden eine öffentliche Angelegenheit sein sollte. Die Lehre von der Schatzkammer des Herrschers (camera → Kameralistik) kümmerte sich tatsächlich zunächst um Schätze, um den Gold- und Silbervorrat einer Nation. Der Vorrat an Schätzen war endlich gedacht (Ausnahme: Schätze unter der Erde); was eine Nation gewann, musste sie einer anderen weggenommen haben. In der immerwährenden Zirkulation der Güter und Reichtümer galt die Handelsbilanz als Gradmesser. Eine positive Handelsbilanz ist gut, eine negative muss verbessert werden.

Die Aufklärung will, kurz gesagt, diese Zirkulation der Güter und Reichtümer nicht nur abschöpfen, sie will sie steigern. Das heißt, sie versucht, das Geheimnis der Produktivität zu ergründen. Traditionell konnte man mehr produzieren nur, indem man mehr arbeitete, also fleißiger war. Dagegen sucht die Aufklärung – mit ihrer Kritik an der Macht des Hergebrachten – ein experimentierendes, innovatives Moment in die Arbeit selbst zu bringen. Das nicht nur, um die Einkünfte der Regierung zu mehren, sondern den Wohlstand aller.

Das wirtschaftliche Denken stand also vor der Aufgabe, Zirkulation und Wachstum zu verbinden, um den unendlichen Vorrat der Zukunft anzuzapfen. Dabei entsteht eine praktisch-theoretische Bewegung: von der Ermahnung, die Produktivität zu steigern, hin zu der Erklärung, wie Produktivität selbstregulierend anwächst. An diesem Punkt angelangt, wo sich der ökonomische Diskurs aus allen politischen und sozialen Zusammenhängen löst, ist die Aufklärung allerdings am Ende.

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