Heft 899, April 2024

Bau und Trümmer

Anselm Kiefer im Sommer 2023 von Karl Heinz Götze

Anselm Kiefer im Sommer 2023

Es war viel Anselm Kiefer vergangenen Sommer. Am 6. Juli 2023 erhielt der Künstler in der Berliner Hugenottenkirche den Deutschen Nationalpreis für seine Verdienste um die deutsch-französische Aussöhnung. Unter den Festrednern war auch der Bundeskanzler. Mitte Oktober lief in den deutschen wie französischen Kinos Wim Wenders’ Film Anselm – Das Rauschen der Zeit an, ein Dokumentarfilm, ganz Anselm Kiefer gewidmet. Wenders, in Cannes mehrfach preisgekrönt, gilt in Frankreich vielen als der bedeutendste lebende deutsche Regisseur. Und dann war jenseits von Berlin und Cannes zum ersten Mal fast einen ganzen Sommer über in einem sehr abgelegenen, kleinen Ort am Rande der Cevennen, in Barjac, ein weitläufiges Gelände zu besichtigen, das Kiefer zwischen 1992 und 2007 zu seinem Atelier gemacht hat, wo er wohnte, arbeitete, lebte.

Von Berlin wie von Paris aus gesehen liegt Barjac am Ende der Welt. Kein Flugplatz, kein Bahnhof. Man kommt mit dem Auto entweder aus dem Süden, über Nîmes und Uzès, oder von Osten, von der Rhonetal-Autobahn, die man, gleich ob in Lyon oder Avignon gestartet, in der Nähe von Orange Richtung Cevennen verlässt. Die Landstraße ist schattig unter Platanen, die Dörfer, durch die man fährt, sind schön vom Weinbau und von den Römern, sie sehen auf den ersten Blick so aus wie das ländliche Frankreich früher, das die deutschen Touristen und die französischen Städter sich so gerne als glücklich vorstellen. Nach dem zweiten Kaffee in der letzten verbliebenen Bar dieser Orte kommen freilich häufig schon die Zweifel, ob man im hiesigen Glück wirklich länger leben möchte, vor allem im Winter. Ab den Autobahnen dauert die Fahrt zwei Stunden, ziemlich egal, ob man hinter dem holländischen Caravan mit den Kanus auf dem Dach herfährt oder Überholmanöver riskiert.

Das Ende der Welt

Barjac ist ein schöner Ort, mit allem, was hier so dazugehört: einer Kirche, einem Schloss, einer Apotheke und 1600 Einwohnern. Bei gutem Wetter sieht man weit über die Ausläufer des Zentralmassivs bis hin zum Mont Lozère, hinter dem blau die Sonne untergeht. Okzitanien, ein ganz anderer Midi als die benachbarte Provence. Das Kunstgelände Anselm Kiefers – »Atelier« wäre ein Diminutiv – liegt nicht im Ort, sondern noch einen strammen Fußmarsch in Richtung auf die Kante am Ende der Weltscheibe weiter.

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