Heft 857, Oktober 2020

Böckenfördes Frage

Zehn Kapitel zum »Staat in der Luft« in Zeiten der Krise von Uwe Volkmann

Zehn Kapitel zum »Staat in der Luft« in Zeiten der Krise

I.

Als Ernst-Wolfgang Böckenförde den Satz formulierte, der ihn berühmt gemacht hat, verband er ihn mit einer Diagnose, die man ungefähr kennt, und einer Frage, von der damals und auch seither wenig Notiz genommen wurde.1 Der Satz ist der Satz von den Voraussetzungen, von denen der freiheitliche Staat lebt, ohne sie garantieren zu können; er ist dort ergänzt um die Bemerkung, dies sei das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen sei. Die Diagnose, der er sich verdankt, liegt in der Deutung der »Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, wie sie auch den Titel der damaligen Abhandlung bildete: Im Verlaufe jenes Vorgangs habe sich, so Böckenförde, der Staat von der Religion emanzipiert, und zwar nicht nur im Sinne der Befreiung von päpstlich-kirchlicher Vorherrschaft, sondern auch im Sinne der inneren Abtrennung von der Religion überhaupt, damit aber auch von dem moralischen Regulativ, das dem menschlichen Leben lange Zeit Richtung und Maß gab und das ganze Gebilde überhaupt zusammenhielt. Der Staat sei dadurch ohne geistiges Prinzip, stehe, wie Hegel einmal schrieb und Böckenförde an anderer Stelle halb zustimmend zitiert, »in der Luft«. Eine Zeitlang habe dies allerdings verdeckt bleiben können, weil im 19. Jahrhundert mit der Idee der Nation eine neue einheitsbildende Kraft an die Stelle der alten getreten sei, die eine neue, nun äußerlichpolitisch gewendete Homogenität begründet habe. Auch diese könne aber dem »Individualismus der Menschenrechte« nicht standhalten, der, »zur vollen Wirksamkeit gebracht«, zuletzt sich auch von dieser Verbindung emanzipieren müsse. Nach 1945 habe man dann, vor allem in Deutschland, versucht, in der »Gemeinsamkeit vorhandener Wertüberzeugungen« eine neue Homogenitätsgrundlage zu finden. Böckenförde schien dies jedoch zeitlebens nicht nur ein »höchst dürftiger«, sondern auch »gefährlicher Ersatz«; er öffne dem »Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen« das Feld, die am Ende die Freiheit eher auflösten als fundierten. Der Staat könne deshalb den Ausweg darin suchen, sich »zum Erfüllungsgaranten der eudämonistischen Lebenserwartung der Bürger« zu machen und daraus die ihn tragende Kraft zu gewinnen. Das Feld, das dadurch eröffnet sei, sei allerdings grenzenlos; der Staat, »auf die inneren Bindekräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt«, werde dadurch auf den Weg gedrängt, die »Verwirklichung der sozialen Utopie zu seinem Programm zu erheben«, was das prinzipielle Problem kaum lösen werde. Dies führt zu der Frage, auf die dann alles zuläuft; es ist die Frage nach der Stabilität des gesamten Gebildes, wenn es wirklich einmal auf die Probe gestellt werden sollte: »Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise?«

II.

Als Böckenförde diese Frage stellte, bestand wenig Anlass, ihr auf den Grund zu gehen: Der Text erschien erstmals 1967 in der Festschrift für Ernst Forsthoff; drei Jahre vorher waren die wesentlichen Überlegungen in der Abgeschiedenheit der Ebracher Seminare vorgetragen worden, einem Kreis überwiegend rechtskonservativer Denker, die wiederum Forsthoff um Carl Schmitt versammelt hatte. Es waren alles in allem ruhige Zeiten, die junge Bundesrepublik bewegte sich wirtschaftlich in sicherem Fahrwasser, von Bonn aus wurde sie gemächlich regiert, keine Studentenrevolte warf ihre Schatten voraus: von Krise nichts zu sehen.

Heute wäre sie da, in Gestalt eines Virus, das nicht nur das Leben, sondern auch die Lebensform einer freiheitlichen Gesellschaft bedroht, und dies in einer Weise und einer Intensität, der man in den letzten Jahrzehnten wenig Vergleichbares an die Seite stellen mag. Worauf also stützte sich der Staat in dieser Situation? Befragen wir dafür, anknüpfend an Böckenfördes Entfaltung des Problems, zunächst die »Gemeinsamkeit vorhandener Wertüberzeugungen«, der er selbst in dieser Hinsicht so wenig zugetraut hatte. Hierzulande sieht man sie meist verkörpert in der Verfassung, die man deshalb ausdrücklich zu einer »Wertordnung« erklärt hat, und dies gerade in der Hoffnung, darin den sachlichen Kern der den Staat künftig tragenden Gesinnung zu finden. Hätte diese sich dann in der Krise bewährt?

Das ließe sich insofern bejahen, als unter ihren vielen Werten und Höchstwerten eben auch das Leben einen Höchstwert bildet, der sich hier nun auf Zeit und vielleicht zusammen mit der ebenfalls noch einmal aufgewerteten Solidarität gegen andere durchgesetzt hätte; insbesondere die Freiheit war ja in ihrem elementaren Kern, als körperliche Bewegungsfreiheit und als Freiheit der Begegnung mit anderen, während des Lockdown praktisch aufgehoben. In der Sprache der Werte handelte es sich dann nüchtern gesehen um einen Tausch: Der Wert Freiheit wird, durchaus in einem Akt kollektiver Solidarität, befristet für den Wert Leben hingegeben oder dispensiert. Die Frage wäre nur, was von Werten zu halten ist, die sich in dieser Weise gegeneinander austauschen lassen. Möglicherweise bestätigt sich darin nur Böckenfördes Verdacht, dass die Rede von den Werten inhaltlich leer ist und sie, wie er an anderer Stelle schrieb, nur eine »Bezeichnungsfunktion« für den je aktuellen Konsens hat: im Sinne eben des »Subjektivismus und Positivismus der Tageswertungen«, der sich in ihnen durchsetzt.

Mit Blick auf die Situation im vom Virus besonders hart getroffenen Italien hat Giorgio Agamben dies zuletzt zu der Kritik radikalisiert, dass unsere Gesellschaft angesichts der Gefahr, sich mit dem Virus anzustecken, praktisch alles zu opfern bereit sei, dass sie keinen anderen Wert mehr habe als das eigene Überleben, an nichts glaube außer an das nackte Leben, das auf seine rein biologischen Funktionen reduziert sei und jede soziale, menschliche oder affektive Dimension eingebüßt habe.2 Das war in seinen ersten Stellungnahmen verquickt mit verschwörungstheoretischen Verharmlosungen des Virus sowie seiner allgemeinen These vom Ausnahmezustand als herrschendem Paradigma heutigen Regierens, die man schon immer glauben mochte oder auch nicht.

Und natürlich lässt sich die Kritik ohne große Mühen insofern als überzogen zurückweisen, als jeder hofft, dass der Tausch nur vorübergehender Natur ist und man langfristig wieder zum Wert Freiheit zurückkehren wird, die eben ohne das Leben selbst wertlos ist. Das Problem ist nur, dass in ganz ähnlicher Weise wie liberale auch solche Gesellschaften auf das Virus reagiert haben, die Freiheit als eigenen Wert gar nicht kennen und in denen die Rückkehr dazu auch keine denkbare Option ist. Um den Wert Freiheit bei uns auf die Probe zu stellen, müsste man nur fragen, was geschieht, wenn die Reproduktionsraten wieder stiegen und das Infektionsgeschehen an Dramatik zunähme: Es gehört dann nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass die große Mehrheit der Gesellschaft wieder für den Lockdown optierte, nüchtern gesprochen also ihre Freiheit erneut und für eine begrenzte Zeit gegen die Hoffnung auf größtmögliche Rettung von Leben eintauschte. Das könnte man als Gedankenexperiment beliebig oft wiederholen, und wahrscheinlich wäre das Ergebnis jedes Mal dasselbe, solange bis irgendwann der Impfstoff gefunden wird, der dem Spuk ein Ende macht. Und wenn er nicht gefunden wird, geht es vielleicht immer so weiter. Was sagte dies dann über die sachliche Substanz des gesellschaftlichen Wertebewusstseins aus?

III.

Konfrontiert mit der Böckenförde’schen Frage ist es dann nur erstaunlich, wie stabil und gefestigt sich der Staat in dieser Lage präsentiert, und zwar gerade auch in der Anerkennung und Unterstützung, die er bei seinen Bürgern findet. Was wäre es also dann, was ihn in der Stunde der Krise trägt? Die erste und einigermaßen überraschende Antwort darauf ist: er sich selbst, und zwar erneut ganz unabhängig von seiner jeweiligen Regierungsform, also davon, ob es sich um einen freiheitlichen, um einen demokratischen oder um einen autoritären Staat handelt – auch insofern haben sich ja die Maßnahmen ihrer Art nach kaum unterschieden. In den vielen Untergangsprognosen, die ihm gestellt wurden, hatte man den Staat als Akteur allerdings schon gar nicht mehr auf der Rechnung, so wie auch im Fortgang von Globalisierung und Europäisierung für ihn kein Platz mehr schien.

Nunmehr hat er sich zurückgemeldet, und bei genauerem Hinsehen merken wir: Er war nie wirklich weg. Tatsächlich sind es fast überall die Staaten, die das Heft des Handelns an sich gerissen haben, während überstaatliche Gebilde wie die Europäische Union weitgehend ausfielen und längst zu den großen Verlierern der Krise gezählt werden. Aber in der Anwesenheit und Allgegenwart der Gefahr richten sich reflexhaft alle Blicke zunächst auf den Staat. Wo es um den Schutz des nackten Lebens geht, ist dieser nun wieder da und vor allem anderen gefordert, und zwar als das, was er von Anfang an war, der Garant der Sicherheit seiner Bürger: immer noch und immer wieder jener sterbliche Gott und Leviathan, »dem wir alle unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken«, wie Hobbes einst schrieb.

Auch die Mittel, derer er sich dazu bedient, treten nun in einer Klarheit wie selten hervor. In der klassischen Sicht war dies vor allem das Recht, das der Willkür der einen um der Willkür der anderen willen Schranken zog, deren Einhaltung wiederum durch Zwang gesichert wurde. Das Recht fungierte auf diese Weise als der ideelle Zaun, der wechselseitige Übergriffe verhinderte und die Bürger auf Distanz voneinander hielt. Nunmehr sind diese Zäune unmittelbar körperlich geworden, sie haben einen Namen (Mindestabstand) und ein Maß bekommen (1,50 Meter), und die Polizei kann ihre Einhaltung kontrollieren. Aber es ist der Staat, der sie aufgestellt und errichtet hat, und er ist, wie sich zeigt, in dieser Funktion offenbar unverzichtbar; wo er sie nicht erfüllt, treten alsbald andere an seine Stelle.

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