Heft 878, Juli 2022

Bucklicht Männlein

Hannah Arendts Benjamin-Porträt von Eva Geulen

Hannah Arendts Benjamin-Porträt

Das Porträt bildet fast so etwas wie eine eigene Untergattung in Arendts Essayistik. Einige ihrer Studien über Einzelpersonen hat sie 1968, im selben Jahr, in dem ihr Benjamin-Text in drei Folgen im Merkur erschien, zu dem Buch Menschen in finsteren Zeiten versammelt – unter anderem über Rosa Luxemburg, Isak Dinesen, Hermann Broch, Martin Heidegger und Karl Jaspers –, in dessen deutsche Ausgabe dann auch der Benjamin-Essay Eingang fand.1 Mit Ausnahme Lessings fällt die Lebenszeit aller dort Porträtierten in »die Welt der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren politischen Katastrophen, moralischen Desastern und einer erstaunlichen Entwicklung von Kunst und Wissenschaft«.2 Ihre einzige weitere Gemeinsamkeit, schreibt Arendt im Vorwort, bestehe darin, dass niemand dabei sei, »von dem behauptet werden könnte, daß er durch dieses Zeitalter bedingt sei«. Es handelt sich also weder um »epochale […] Figuren«, die sich über ihre Zeit erheben, um sie zu repräsentieren, noch um passive Opfer herrschender Verhältnisse. Gleichwohl gelingt es Arendt, diese Menschen in und mit ihrer Zeit zugleich zu schildern. Das ist die Signatur all ihrer so lesbaren wie lehrreichen Porträts. Das Besondere jedes einzelnen Textes besteht darin, wie der Zusammenhang von Zeit und Person entfaltet wird.

Mit dem Bild des Buckligen – und Benjamins von Arendt beschriebener Gang verlieh ihm nach allem, was wir wissen, die Haltung eines Buckligen – fand Arendt das ihre gesamte Darstellung organisierende Motiv. Benjamin selbst hatte dem »bucklicht Männlein« aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit dem Schlussstück seiner Prosaskizzen Berliner Kindheit eine Sonderstellung eingeräumt, und es kehrt an vielen Stellen wieder, etwa in der ersten der Thesen Über den Begriff der Geschichte allegorisch als der »bucklige Zwerg« der Theologie, der dem historischen Materialismus heimlich beim Gewinnen hilft. Arendt zitiert die Verse des alten Kinderlieds als Motto und spielt deren Deutung in Benjamins Berliner Kindheit anschließend teils paraphrasierend, teils zitierend ein. Wer das bucklicht Männlein sei, das dem Kind stets zuvorkommt und die Töpfe, Krüge, Teller zerbricht, die es gerade zur Hand nimmt, habe die Mutter ihm verraten: »›Ungeschickt läßt grüßen‹, hatte sie wie Millionen anderer Mütter immer gesagt, wenn sich eine der unzähligen Katastrophen, welche die Kindheit durchziehen, ereignet hatte. Und das Kind weiß natürlich, was es mit diesem seltsamen Ungeschick auf sich hat und daß die Mutter vom ›bucklichten Männlein‹ spricht, von dieser personifizierten Tücke des Objekts, die einem das Bein stellt, wenn man hinfällt, und die Gegenstände aus der Hand schlägt, wenn man etwas zerbricht. Aber erst der Erwachsene weiß, […] daß das Ungeschick ein Mißgeschick war.«

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