Literaturkolumne
Altes und Neues aus den Literaturwissenschaften von Eva GeulenAltes und Neues aus den Literaturwissenschaften
Zwei Herren stritten sich jüngst gepflegt. Meister ihres Faches (der Romanistik) alle beide, ging es einmal mehr um Herkunft und Zukunft der Geistes- und vor allem der Literaturwissenschaften. Den Aufschlag machte Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 29. Oktober 2019. Der Bestandsaufnahme (sinkende Hörerzahlen, falsch verstandene Professionalisierung und moralisch überformte politische Korrektheit) folgte die Geschichtslektion: Die große Zeit der Geisteswissenschaften lag in dem Jahrhundert zwischen Romantik und Erstem Weltkrieg. Danach ging es etappenweise bergab, mit verzweifelter, auch vor schlimmsten Ideologien nicht Halt machender Anbiederung an die sogenannte Öffentlichkeit; aber auch Rückzug in den Elfenbeinturm und zunehmende Verwissenschaftlichung trugen zur Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften bei.
Schließlich der Silberstreif einer neuen Aufgabe der Geisteswissenschaften heute, in außerakademischen Kontexten, wo man Leute mit Erfahrung in ästhetischer Erfahrung offenbar gut gebrauchen kann, weil sie die Fähigkeit besäßen, »die Welt komplexer aussehen zu lassen«. Eine entsprechende Praxis könne jedenfalls »zurückführen zu einem säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation« – im Unterschied zur abgehobenen Kunstreligion der vorigen Jahrhundertwende –, »in dem schon immer die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der sogenannten Geistes-›Wissenschaften‹ gelegen hatte«. Da ist was dran.
Andreas Kablitz mochte dazu nicht schweigen, gab den Gegenspieler und korrigierte am 4. November 2019 in der FAZ erst einmal Gumbrechts Festlegung der Geisteswissenschaften auf Expertise in ästhetischer Erfahrung. Geisteswissenschaftliches Kerngeschäft sei vielmehr »die Rationalisierung einer schon vorausgesetzten ästhetischen Wirkung«. (»Begreifen, was uns ergreift«, hieß das bei Emil Staiger.) Und ihre vornehmste wie wichtigste Aufgabe fänden die Geisteswissenschaften immer noch in der Lehre. Die heute sträflich vernachlässigte Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sorge automatisch und hinreichend für die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften. Da ist auch was dran.1
Dass beide Positionen dennoch harmonisch zusammenstimmen, liegt auch an ihren geteilten Prämissen. Es hat nämlich seit dem 18. Jahrhundert keinen Bildungsbegriff gegeben, der ohne ästhetische Erfahrung gedacht werden könnte, wie es umgekehrt seither auch kein von (Aus)Bildung ganz entkoppeltes Konzept ästhetischer Erfahrung gegeben hat. Beider Widerstreit gehört konstitutiv zur deutschen Bildungstradition Humboldt’scher Prägung und bestimmt die Diskussion von Schillers Briefen über ästhetische Erziehung des Menschen (1794) bis zu Adorno, der in der »Frühen Einleitung« zu seiner Ästhetischen Theorie (1970) bemerkt: »Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig, sie wahrzunehmen.« Auch und gerade wo versucht wird, das eine gegen das andere auszuspielen, erweisen sich ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung als aufeinander bezogen. Deshalb konnte aus dem Schlagabtausch der beiden Romanisten kein Streit werden.
Aber wie steht es mit Kablitzens Tadel von Gumbrechts Geschichtsvergessenheit? Habe der doch verschwiegen, dass die Geisteswissenschaften deshalb und nur dann entstanden, als sich »in der Folge der Aufklärung« die Beschäftigung mit menschlichen Belangen »nicht mehr auf eine für alle Menschen gleiche natura hominis […] zurückführen ließ«. Der Erfinder der Formel von der »breiten Gegenwart« braucht sich da nicht belehren zu lassen, denn er verfährt ja seinerseits gut historisch, was Kablitz auch nicht unerwähnt lässt, der dieselbe Geschichte mit etwas anderen Akzenten erzählt. Vor allem in Deutschland ist die historische Perspektive spätestens seit Dilthey erste (akademische) Bürgerpflicht und Inbegriff von Geisteswissenschaftlichkeit überhaupt.
Strategische Historisierung
Erfrischend und gründlicher provozierend ist deshalb der Blick in das Buch eines jungen Anglisten der Yale University, das auch in den USA, wo die humanities von jeher nicht so eng an den Primat der Geschichte gekoppelt waren, für einige Aufregung gesorgt hat. Im Alleingang, abseits geläufiger Periodisierungen und Selbstbeschreibungen, hat Joseph North eine – eingestandenermaßen tendenziöse – Geschichte seines Fachs vorgelegt.2
Das Ganze ist in der Tat sehr lokal auf die Anglistik in den Vereinigten Staaten (und Großbritannien) bezogen. Unbekümmert äußert der Autor überdies seine politischen Überzeugungen. Den Ansprüchen der Fachgeschichte, wie sie etwa in Deutschland vielbändig und in eigens dafür reservierten Zeitschriften gepflegt wird,3 entspricht er gewiss nicht. Will es aber auch gar nicht. Die praktische Indienstnahme von Fach-Geschichtsschreibung als Gegenwartsintervention ist die Pointe seiner »strategischen Historisierung«.4 Die Provokation: Frontal greift der sich als links identifizierende Autor den berühmten Imperativ des Übervaters der US-amerikanischen akademischen Linken Fredric Jameson an: »Always historicize!« Daran zweifeln zu wollen kommt schon einem Affront gleich, besonders im linken Spektrum. Rechts steht, wer überzeitliche Ideale beschwört und an ewige Klassiker glaubt.
Uns allen ist der Imperativ »Always historicize!« so in Fleisch und Blut übergegangen, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, noch mal extra zu fragen, worin denn eigentlich genau der beschworene Nexus zwischen Historisierung und (linker) Politik besteht. Erlaubt es historisches Wissen um die Kontexte von Literatur schon, über vergangene oder gegenwärtige Phänomene und Fragen politisch verlässliche oder gar Wege weisende Auskunft zu erhalten? Oder muss man dazu, mit Franco Moretti zu reden, »die Kräfte« und Gesetze der Geschichte unter dem Kapitalismus schon kennen? Wozu bedarf es dann aber der Historisierung? Oder ist der Begriff, sofern er streng genommen den Vorgang bezeichnet, mit dem ein vordem historischen Prozessen als entzogen wahrgenommenes Phänomen zu einem geschichtlichen wird,5 ein weniger belastetes Wort für »Ideologiekritik«, die ja auch die Geschichtlichkeit des scheinbar Naturwüchsigen herausarbeitet?6 Das ist ein weites und in den Geisteswissenschaften auch hierzulande weitgehend unbefragtes Feld, eben weil das historistische Paradigma, wie man an Gumbrecht und Kablitz sieht, zu den Hintergrundannahmen unseres geisteswissenschaftlichen Tuns und Lassens zählt.
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