Heft 907, Dezember 2024

Der deutsche Nachkrieg und die abgesagte Friedenskonferenz

von Felix Ackermann

Sowohl die Deutsche Demokratische Republik als auch die Bundesrepublik Deutschland waren postnationalsozialistische Staatsgründungen. Beide lassen sich als Reaktionen auf das über zwölf Jahre andauernde Wirken des Nationalsozialismus als Herrschaftspraxis und Gewaltregime deuten. Und beide waren Versuche, die im Viermächte-Status festgeschriebene alliierte Besatzung des Deutschen Reichs durch eine eingeschränkte Form staatlicher Souveränität zu ersetzen. Der langfristige Effekt der konkurrierenden Gründungen ist verblüffend. Die meisten Deutschen verstehen den Nachkrieg bis heute nicht als Besatzungsgeschichte, obwohl der Alliierte Kontrollrat noch bis zur Unterzeichnung der Zwei-plus-vier-Verträge im September 1990 existierte und formell die Kontrolle über beide 1949 entstandenen deutschen Staaten ausübte. Das Bewusstsein für die eingeschränkte Form von Souveränität, die prägend für beide postnationalsozialistischen Staatsgründungen war, scheint in Ost und West gleichermaßen gering ausgeprägt zu sein.

Die konsequente Verwendung des Begriffs »Alliierte« anstelle von »Siegermächte« oder »Besatzer« für die französischen, britischen und US-amerikanischen Truppen lässt sich im Rückblick als Praxis deuten, die es der deutschen Gesellschaft im Westen ermöglichte, den nicht endgültigen Status deutscher Staatlichkeit auszublenden. Während es aus heutiger Sicht wenig überrascht, dass sich die Bundesrepublik ab den 1960er Jahren kulturell zunehmend an Großbritannien und den Vereinigten Staaten orientierte, übersieht man leicht, dass Teile der Alltagskultur in der DDR entsprechend auf die Sowjetunion ausgerichtet waren. In der DDR gab es ab 1949 nicht nur von Moskau kontrollierte staatliche Strukturen, die mit Gewalt abgesicherte Vorherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und sozialistische Alltagsrituale wie die Durchführung militärischer Fahnenappelle in Schulen oder von Militärparaden zu wichtigen Jahrestagen. Anders etwa als in Polen oder Litauen, die sich stärker und früher als von Moskau besetzte Staaten verstanden hatten, lässt sich eine Verbreitung russischer Namen wie Nadja und Kolja beobachten – interessanterweise nicht in der Ausgangsversion Nadeschda und Nikolaj, sondern häufig in der Verniedlichungsform. Anders als in weiten Teilen des östlichen Mitteleuropa zeugen die Straßennamen einst in der DDR gelegener Städte von einer nachhaltigen alltagskulturellen Identifikation mit dem ideologischen Programm: Karl Marx, Karl Liebknecht oder Rosa Luxemburg, aber auch Juri Gagarin, Alexander Puschkin und Georgi Schukow sind in mehreren Städten bis heute präsent.

Ein großer Teil der deutschen Gesellschaft hat die eingeschränkte Souveränität ihres postnationalsozialistischen Staats nicht als Besatzung verstanden. Der physische Zusammenbruch des Deutschen Reichs in den Endkämpfen des Zweiten Weltkriegs war im Frühjahr 1945 mit Händen zu greifen. Die vielfach zerstörten Innenstädte, Bahnhöfe und Industriebetriebe, gesprengte Brücken und Denkmäler haben zusammen mit den Selbstmorden Adolf Hitlers und seiner engsten Vertrauten ein reales Ende erlebbar und verstehbar gemacht. Dass die Nationalsozialisten mit Unterstützung der von ihnen geschaffenen Volksgemeinschaft nicht nur ganz Europa besetzt hatten, sondern als Folge eines von Millionen deutscher Männer geführten Vernichtungskriegs auch die Zerstörung Deutschlands mitverantworteten, ist allerdings bis heute kein Glaubenssatz der deutschen Gesellschaft geworden.

Die meisten Deutschen sahen sich nach 1945 zugleich als Opfer der nationalsozialistischen Diktatur und der Zerstörungen im Zuge der alliierten Angriffe. Weitgehend ausgeblendet blieb damit bis zur Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, dass erst die Panzer und Soldaten der alliierten Streitkräfte den Nationalsozialismus beendeten, da die deutsche Gesellschaft in ihrer Mehrheit weder gewillt noch im Stande war, sich selbst zu befreien. Das schien auch deshalb nicht möglich gewesen zu sein, weil der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft anders als in der bis heute wirkmächtigen Sprachregelung, die an die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer als »die Nazis« als eine scheinbar von der deutschen Gesellschaft losgelöste Sekte erinnert, nicht als zwei voneinander getrennte Gruppen existiert hatten.

Der Begriff »postnationalsozialistische Gesellschaft« geht davon aus, dass es im Frühjahr 1945 zunächst eine weitgehende Kongruenz zwischen der ab 1933 mit symbolischer und physischer Gewalt geschaffenen nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und der deutschen Gesellschaft gab. »Die Nazis« semiotisch von dieser Gemeinschaft abzutrennen und ihr die Verantwortung für die im Namen des deutschen Volkes und des Deutschen Reichs begangenen Verbrechen zu übertragen, ist eine wichtige kulturelle Praxis, die bis heute dazu beiträgt, eine postnationalsozialistische Gesellschaft herzustellen. Deren Gegenwart ist vom andauernden Ringen um die Überwindung der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt.

Der Umkehrschluss, alle Deutschen nachträglich zu Nationalsozialisten zu erklären, wäre ebenso kontrafaktisch – auch weil die Verfolgungen ab 1933 zum symbolischen und physischen Ausschluss von politischen Gegnern des Nationalsozialismus, von deutschen Juden, Sintize und Romnja sowie anderen Gruppen geführt hatten. Diejenigen Verfolgten, die den Nationalsozialismus in Lagern, im Versteck oder im Exil überlebt hatten, konnten ab 1945 zurückkehren. Auch alle anderen Einwohner des Deutschen Reichs waren unmittelbar vom Nationalsozialismus betroffen. Die große Mehrheit hatte als Mitwirkende, Zeugen, oder Nutznießer in unterschiedlichem Maße aktiven Anteil an dessen Entstehung, Gestaltung, Entfaltung und Abwicklung.

Eine weitere semiotische Praxis zur Herstellung einer postnationalsozialistischen Gesellschaft bestand in der positiven Neubesetzung des Begriffs »Volk«, die mit beiden Staatsgründungen 1949 erfolgte. Die Gesetzestexte beider Verfassungen erhoben Anspruch auf die Vertretung des gesamten deutschen Volkes. Beide Texte verzichteten dabei 1949 konsequent auf die Verwendung des Begriffs der Nation. Die SED und staatliche Einrichtungen der DDR verwendeten hingegen das Adjektiv »national« in Bezug auf die Nationale Volksarmee und andere Organisationen. Der Begriff, der die Verfassungstexte als zentrale Bezugsgröße und Quelle von Legitimation dominiert, ist in beiden Fällen »das Volk«, wobei es sich jeweils um einen anderen Volksbegriff handelt als im Nationalsozialismus.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors