Die Zukunft der Gefängnisse
von Felix AckermannAm Ufer der Newa steht seit drei Jahren das größte Denkmal des Großen Terrors im Leningrad der Jahre 1937 und 1938 leer. Das Kresty-Gefängnis mit den markanten Backsteingängen in Kreuzform ist in St. Petersburg der Inbegriff staatlichen Terrors gegen die eigene Bevölkerung. Während der stalinistischen Säuberungen saßen in dem für 1150 Insassen geplanten Bau mehr als 10 000 Gefangene, viele wurden nach ihrer Verurteilung als Volksfeinde verschleppt und ermordet. 2017 wurde in Kolpino nahe St. Petersburg Kresty II fertiggestellt – mit Zellen für 4000 Häftlinge eine der größten Haftanstalten Europas. In Erinnerung an das Original bildet der Grundriss des achtstöckigen Hochhauses am Stadtrand ebenso ein Kreuz mit einem runden Mittelbau. Seither steht das historische Gebäude an der Newa leer, weil jede Nachnutzung eine Antwort auf die Frage geben müsste, wie im Russland des 21. Jahrhunderts mit der Gewaltgeschichte dieses Orts umgegangen werden soll.
Noch 2013 hatten die in Kresty festgehaltenen Mitglieder der Band Pussy Riot nach ihrer Entlassung von Zwangsarbeit und schlechten Haftbedingungen berichtet. Eine Mitarbeiterin des Moskauer Instituts für Strafvollzugsgeschichte am Justizministerium sagt über die Nachnutzung von Kresty: »Wir lagern dort derzeit vor allem Unterlagen und nutzen einen Teil der Zellen als Büroräume.« Dabei wurde das Gebäude 1890 als Visitenkarte eines zivilisierten und modernen Russland rechtzeitig zum Internationalen Strafvollzugskongress in Betrieb genommen, um aller Welt zu zeigen: Russland ist eine Lokomotive des Fortschritts in der Modernisierung des Strafvollzugs.
Bei der Umverlegung des Strafvollzugs von Kresty in den Neubau Kresty II sind zwei wichtige Wesenszüge der Herrschaft in Putins Russland deutlich zutage getreten: die Korruption und die Gewalt staatlicher Stellen. Die Eröffnung des Neubaus verzögerte sich aufgrund der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Als eine Revisionskommission Ermittlungen wegen des Verdachts auf Zahlung von Schmiergeldern in Höhe von 700 Millionen Rubel aufnahm, kam es zum Auftragsmord innerhalb der Gefängnisverwaltung. Der mit der Aufsicht des Großprojekts Kresty II betraute stellvertretende Direktor der Föderalen Strafvollzugsbehörde in St. Petersburg, Sergej Mojsejenko, beauftragte im März 2017 einen Berufskiller damit, seinen Untergebenen Nikolai Tschernow zu erschießen, der in der Behörde für die Ausführung des Baus zuständig war. Ein Urteil des Obersten Gerichts im Bezirk Leningrad verurteilte Mojsejenko im Juli 2020 zu fünfzehn Jahren Lagerhaft.
Wilna
Dass auch leerstehende Gefängniskomplexe stets eine symbolische Bedeutung als öffentliche Räume haben, kann man derzeit 700 Kilometer südlich im Lukischki-Gefängnis in der litauischen Hauptstadt beobachten. Der Entwurf für den 1904 fertiggestellten Bau aus gelben Backsteinen vor den Toren der Stadt stammte ebenfalls vom Hauptingenieur des Zaren, Antoni Tomischko, der Kresty gebaut hatte. Neben der Aufsicht über die Konstruktion von Brücken, Chausseen und Kanälen begeisterte sich Tomischko für die komplexen Gefängnisprojekte und machte sie zur Chefsache. Auch Lukischki sollte ein Aushängeschild für die Fortschrittlichkeit zaristischer Herrschaft sein.
Es war das erste öffentliche Gebäude in Wilna mit Zentralheizung, Ventilation, einem eigenen Kanalisationssystem und einem Krankenhaustrakt. Ein Stadtführer empfahl 1905 einen Spaziergang in den Vorort Lukischki, um die ganze Schönheit dieser Architektur zu erblicken. Um zum Ausdruck zu bringen, dass das Gefängnis trotz seiner Außenwirkung vor allem zur Bestrafung der Einwohner des Gouvernements gedacht war, hatte Tomischko neben der repräsentativen russisch-orthodoxen St.-Nikolai-Kirche im Eingangsbereich auch einen jüdischen Gebetsraum im Dachstuhl eines Zellentrakts sowie eine römisch-katholische Kapelle mitten im runden Zentralkorridor entworfen. Der Gefängniskaplan konnte die Messe von der Mitte des Gebäudes aus abhalten, ohne dass die Gefangenen ihren Gang verlassen mussten.
An denselben gusseisernen Gittern, an denen die Häftlinge während des Zweiten Weltkriegs standen, folgen ein Jahr nach der im Juli 2019 erfolgten Schließung von Lukischki Besucher der Neuinszenierung des Stücks Hier wird es keinen Tod geben. Die erste Wilnaer Inszenierung von Rimas Tuminas im Kleinen Theater war 1990 eine Sensation, weil sie eine neue Sprache fand, um über die sowjetischen Deportationen von Litauern zu sprechen. 2020 erinnert eine Truppe um die Schauspielerin Agnė Šataitė nicht nur an die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts für Litauen. Die Inszenierung zeigt, wie sich die litauische Gesellschaft den russischen Gefängnisbau als öffentlichen Raum aneignet. Nach der Überführung der letzten Häftlinge in andere Anstalten begann ein offener Prozess, um die Interessen von Anwohnern, Künstlern, Bürgerinitiativen, Unternehmern und Akteuren der Geschichtspolitik zu diskutieren.
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