Die Gedächtnislücke von Suwałki
von Felix AckermannPolnische Urlauber kochen in einem VW-Bus auf dem Parkplatz an der Grenze zu Russland einen Kaffee. Am Beginn der Lücke von Suwałki gibt es weit und breit kein Ausflugslokal. Radfahrer unterbrechen verschwitzt ihre Tour entlang der Green-Velo-Route, die durch den Osten und Norden Polens auf wenig befahrenen Straßen über Wiesen und durch Wälder führt. Eine Tafel gibt Auskunft, dass hier bis zu ihrer Unterwerfung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert baltische Stämme siedelten.
Im Dreiländereck zwischen Russischer Föderation, Litauen und Polen treffen drei verschiedenen Arten, Zäune zu bauen, symbolisch aufeinander. Der russische Zaun ist grün und kommt ohne Stacheldraht aus, denn eine Videokamera überträgt die Aufnahmen von Ausflugstouristen in die nahe Grenzstation. Ein übergroßes Schild erinnert daran, dass hier wirklich die russische Staatsgrenze liegt und Übertritte umgehend geahndet werden. Auf litauischer Seite steht ein Zaun aus Weißmetall. Er markiert das schmalste Dreieck mit Stacheldraht, obwohl zwischen Polen und Litauen fast durchgehend eine grüne Grenze ohne Schutzanlagen verläuft. Auf polnischer Seite hat die Verwaltung des Kreises Suwałki mit Mitteln der Europäischen Union den 300 Meter langen Fußweg vom Parkplatz zum Dreiländereck als Lernpfad gestaltet.
Am Wegesrand ragen übergroße gelbe Metallbügel aus dem Boden. Die Krönung des Landschaftsensembles mit Zaun bildet eine rundgeschliffene Granitstele, auf der »Rzeczpospolita« steht, um daran zu erinnern, dass südlich der Grenze wirklich Polen liegt. In einer Konferenz rangen Vertreter der anliegenden Kreise um den genauen Standpunkt, verschoben die Markierung des Dreiländerecks um einige Zentimeter und einigten sich darauf, den mühsam errungenen Kompromiss nach dem nahen See zu benennen: Wisztyniec auf Polnisch, Vištytis auf Litauisch und Russisch. Als hier noch die östliche Grenze Ostpreußens verlief, wurde er von den Anwohnern Wistiter See genannt. Er grenzt an die Rominter Heide, die noch bis zur Frühen Neuzeit Teil der großen Wildnis Ostpreußens war.
Der Lehrpfad informiert in lakonischem Tonfall darüber, dass hier das Kaliningrader Gebiet beginnt, weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg begann. Die Autoren teilen nicht mit, dass sich der deutsche Überfall im September 1939 in ähnlicher Weise gegen die Existenz des polnischen Staats und der polnischen Nation richtete wie heute der russische Staat mit Waffengewalt das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Die Lücke von Suwałki an der polnisch-litauischen Grenze gilt als das am schwierigsten zu verteidigende Territorium aller NATO-Mitgliedsstaaten im Fall einer erneuten Ausweitung der Kampfzone. Litauen warnte schon 2014, dass eine russische Aggression nicht in Luhansk und Donezk enden würde.
Am westlichen Beginn der Suwałki-Lücke ist die einfache historische Logik mit Händen zu greifen: Hätte das Deutsche Reich keinen Vernichtungskrieg begonnen, läge heute mit großer Wahrscheinlichkeit jenseits des Wistiter Sees noch immer das ostpreußische Dorf Wenzlowischken und nicht die russische Siedlung Wosnessenskoje. Die grenzüberschreitende Kooperation zwischen Vertretern des Kaliningrader Gebiets und den angrenzenden Bezirken hatte in einer anderen Zeitrechnung stattgefunden.
Historisches Grenzgebiet
Ein Ehepaar aus Wilna ist auf dem Weg zum Urlaub in Masuren. Nach der Besichtigung der Granitstele sagt Irena: »Für Litauen ist die Lücke ganz real. Alle Nachrichten beginnen mit dem Krieg in der Ukraine. Erst dann folgt die angespannte ökonomische Situation.« Für Litauer sei es aber dennoch interessant, jenseits der Grenze unterwegs zu sein, denn die Lücke von Suwałki ist auch ein historisches Grenzgebiet, und das erschwert die Orientierung. Dutzende Dörfer im ehemals ostpreußischen Teil Polens tragen bis heute litauische Namen. Unweit von hier liegt das Dorf Lenkupe, was auf Litauisch »polnischer Fluss« bedeutet.
Wegen seiner baltischen Vergangenheit ist Suwałki auf der mentalen Landkarte Litauens ebenso wichtig wie Königsberg. Jedes Kind lernt in der Schule schon in der ersten Klasse, dass die Suvalkija eine wichtige ethnische Region Litauens ist. Sie ist bis heute nach Suwałki benannt, weil der hier gesprochene Dialekt des Litauischen auf beiden Seiten der polnisch-litauischen Grenze zu hören ist. Daran erinnern das litauische Restaurant Ruta in der polnischen Kleinstadt Puńsk und ein Konsulat im nahen Sejny, das sich um die Belange der litauischsprachigen Minderheit südlich der Grenze kümmert.
Heute dominieren jenseits des Lernpfads dort, wo bis 1991 die Grenze zwischen Sowjetunion und der Volksrepublik Polen lag, grünbewachsene, von Kornfeldern umgebene Hügel. Sie sind allein durchschnitten von den baltischen Arterien für den Gütertransport. Alle Lkw, die Waren zwischen dem Baltikum und Westeuropa transportieren, fahren durch die Lücke von Suwałki. Eine Autobahn zwischen Warschau und Kaunas ist seit Jahren im Bau. Die Vollendung des europäischen Projekts einer Via Baltica auf Schienen scheint noch weiter in der Zukunft zu liegen. Und so wirkt die E67 wie eine Autobahn, die durchgehend über Landstraßen geführt wird. Die 40-Tonner rollen im Sekundentakt in beide Richtungen durch die wellige Landschaft.
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