Heft 855, August 2020

Der Untergang

von Jürgen Große

»Einheit«, »Beitritt«, »Anschluss« – für die DDR war es der Untergang. Über ihn kursieren allerlei Geschichten. Einige widersprechen, andere ergänzen einander. Mancher Erzähler trägt mehrere Geschichten zugleich vor und gilt doch nicht als historisch inkompetent, obwohl »vier Evidenzen weniger sind als eine« (André Glucksmann).

Hier soll es um Untergangserzählungen von einem »real existierenden« Staat gehen. Unberücksichtigt bleibt das vom Herbst 1989 bis zum 2. Oktober 1990 existierende Gebilde.1

Notstandsnarrative

Am häufigsten wird man, gerade zu Untergangsjubiläen, die Freiheitserzählung hören. Gemeint ist zuvörderst politische Freiheit. Der Mangel bürgerlicher Rechte und von Rechtssicherheit, der Basis für freie politische Betätigung, habe das Volk auf die Straße getrieben. Gefehlt hätte eine Basis für Bürgerlichkeit auch im materiellen und kulturellen Sinn. Dies mag als Erzählung, weniger jedoch als Erklärung taugen. Es gab repressivere Phasen in der DDR-Geschichte als die späten 1980er Jahre. Staat und Volk hatten Zeit gehabt, sich aneinander zu gewöhnen. Man kannte einander, wusste ungefähr, was möglich war. Spontane Freiheitsaufwallungen hätte das nicht begünstigt. Auch die manchmal bemühte Parallele 1789/1989 spricht gegen Verhältnisse, die eine Revolution provozieren mussten. Weder Ludwig XVI. noch Erich Honecker zeigten außergewöhnlichen Unterdrückungsdrang. Die politische Version der Revolutionsthese ist unplausibel, und zwar gerade hinsichtlich ihres Subjekts. »Das Volk« – sprich: eine Mehrheit – geht für Brot auf die Straße, riskiert aber nicht für Freiheit sein Leben. Gar für die Freiheit, endlich die Führung »mit dem Gesicht zum Volke« (Gerhard Schöne) erblicken zu dürfen! Einen Volkskampf für die Freiheit, satt zu werden, zeigten allein die rumänischen Hungerrevolten.

Die These vom wirtschaftlichen Bankrott war seit 1989/90 verstärkt zu hören. Auch sie kann als Erzählung vom DDR-Ende gelten, nicht als seine Erklärung. Für ökonomische Niedergänge gibt es ebenso wenig eine Prognoseregel wie für politische Repression. Beliebt bleibt die These bei frühen Beitrittsfreunden.2 Hiergegen haben Ex-Wirtschaftsführer der DDR darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik mit einem Vielfachen der Pro-Kopf-Verschuldung des SED-Staats in die deutsche Einheit ging. Löhne und Gehälter konnten bis zur Umbruchphase gezahlt werden, die Inflation war moderat, die Liquiditätsreserve vorzeigbar.3 Die »Staatsschulden« hatten Verrechnungscharakter innerhalb einer Staatswirtschaft. An auswärtigen Kreditgebern und -vergabewilligen für das gern »marode« genannte System fehlte es bis 1989 nicht.

Eine Variante der ökonomischen Untergangsgeschichte ist die militärökonomische vom Totgerüstetsein: Den DDR- wie den Ostblock-Ökonomien generell seien beim Wettrüsten sozialpolitische Grenzen gesetzt gewesen, da ja niemand an der Rüstung verdient habe. In der Auflösungsphase der DDR hörte man derlei auch von frohlockenden Transatlantikern. Sie gratulierten sich dazu, auf Gorbatschows (und damit Honeckers) Abrüstungsvorschläge nicht eingegangen zu sein. Als Untergangsthese ließe dies jedoch unerklärt, warum der militärisch organisierte oder involvierte Bevölkerungsteil den DDR-Abschaffungsplänen nicht energischer entgegentrat. Diese Leute hatten immerhin etwas zu verlieren. Die Wenigsten strebten nach 1990 ihre Übernahme ins Westmilitär an.

Schließlich wird man von einer unerträglichen kulturellen Enge der dritten deutschen Republik erzählen hören. Typische Erzählorte sind Erzählsofas auf Literaturmessen oder Rundfunkfeatures. In den ersten Einheitsjahren waren als Erzähler meist nur Ausgereiste oder Dissidenten aus Sozialenklaven (Kirche, Untergrund) erwünscht. Ungefähr seit der Jahrtausendwende begannen sich Westdeutschlands Feuilletons auch für ein spezifisch bürgerliches Leiden inmitten der proletarisch (oder »pseudoproletarisch«) geprägten Offizialkultur zu interessieren. Im Enge-, Blässe-, Mief- und Stickluftnarrativ ist das Wort »Kultur« mehrdeutig. In einem engeren Sinn bezeichnet es eine Sphäre symbolischer Betätigung, zielt auf unterdrückte Kunstausübung oder beschnittene Forschung. In einem weiteren Sinn ist es synonym mit »Gesellschaft«. Diese sei in ihrer Ausdrucksfreiheit – meist gemeint: gegenüber der SED, somit dem Staat – insgesamt gehemmt und daher revolutionsgeneigt gewesen (Dampfkesseltheorem). Beide Bedeutungen von »Kultur« verschwimmen oft in einer spezifischen Heimatliteratur,4 worin es um Unterversorgung mit angloamerikanischem (Pop)Kulturgut geht, um die traurig-witzigen Substituterfindungen, die widerständigen Keckheiten, die privatweltlichen Freuden. Die ideologisch schroffe Version dieser Erzählung läuft auf totale Abgeschnittenheit von »Kultur« als »civilization« im westlichen Sinn, ja von »Welt«-Zivilisation hinaus.5

Für die These von der kulturellen Enge gilt wie für die politische Befreiungsthese, dass erlebte Unfreiheit erst ab einer bestimmten Einfluss- und Verantwortungsebene revolutionsträchtig werden kann. In den 1980er Jahren hatte sich jedoch ein Großteil der Jugend von der etablierten Sinngeber-Schicht abgewandt. Deren pädagogisches Kulturideal war verstaubt. Reformträumerei und Sklavensprache, das Ringen um endlich krustenfreien Sozialismus oder wenigstens aufgeklärteren Despotismus, das Lauschen auf Dissidenz-Botschaften bei Lesungen etablierter Schriftstellerinnen – all das erschien einer jungen Generation schlicht als Kraftvergeudung. Die Subkultur war bereits Mainstream jugendlichen Andersseins, eine Heimat, in der man es sich »gemütlich machen« wollte (Christian Lorenz alias Flake). »Wir waren nicht außen vor, wir waren die Gesellschaft.« (Olaf Schwarzbach alias OL).6 »Außen vor« war der Staat. Mithin ging der Niedergang dieses Staats primär ihn selbst etwas an. Eine apolitische Stimmung würde sogar den Protest gegen ihn prägen.

Die drei gegenwärtig prominentesten Notstands- und Widerstandsnarrative bleiben erklärungsschwach, wirken wie logificatio post festum (Theodor Lessing), auch in ihrer Kombination. Attraktiver scheint daher ein älteres Explanans, der Primat der Außenpolitik: Als die Sowjetunion taumelte, mithin der Exporteur und Erhalter des Kommunismus, musste es auch um dessen Satrapien geschehen sein. Mit dieser Erklärung wäre das Problem jedoch nur verschoben.7 Denn nun müsste man fragen, warum überhaupt ein kommunistischer oder zumindest als kommunistisch gewollter Staat je entstehen und bestehen konnte. Warum existierte ein System, das »auf Untergang« programmiert war, ein Dreivierteljahrhundert, länger als viele bürgerlich-liberale oder faschistische Staatsgründungen nach 1918?

Verfehlungsexempel

Innenpolitisches, ökonomisches, kulturelles und außenpolitisches Argument folgen meist der Logik ihrer Forschungsgenres. Medienöffentlich schillern solche Ansätze zwischen Erklärung und Erzählung. Gibt es weitere? Eine Antwort kann man auf dem unsicheren Boden von Geschichtspolitik und Geschichtsdeutung finden. Auf Erklärung im engeren, also kausalen Sinn verzichten Deutungen von Geschichte meist zugunsten exemplarischer Darstellung. DDR-Dasein und DDR-Untergang werden so zu Lehrbeispielen für Gewissheiten, die unabhängig davon existieren. Die einschlägigen Untergangsdeutungen verwenden keine Binnenperspektiven, vernachlässigen Erfahrungen des DDR-Staatsvolks. Das Untergegangene und seine Reste sind hier Projektionsflächen altbundesdeutscher Konflikte. Staatsgebilde und Staatsvolk fungieren je als Schwarzer Peter, den man einander zuzuschieben sucht.

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