Transformationen der Empfindsamkeit
von Jürgen GroßeGefühlsaufgang: Die Empörten und die Empfindsamen
Politische Farbkontraste von kulturellem Symbolwert sind in der Bundesrepublik Deutschland gut eingeführt. In ihren ersten Jahrzehnten standen Schwarz und Rot für politisch-kulturelle Alternativen, in den 1990ern (Kapitalismus oder Barbarei!) waren es wahrscheinlich Liberalgelb und Linkspurpur, inzwischen sind es Blau und Grün. Bemerkenswert an letzterer Konstellation ist, dass sich diese Alternativen nicht entlang von statistiktauglichen Kriterien ausbildeten, etwa von Einkommenslage oder Bildungsgrad. Stärker und verlässlicher symbolisieren sie sich in einem Gefühlshabitus sozialen Handelns – in bewusst erzeugten, verstetigten und präsentierten Affekten.
»Empörte« und »Empfindsame« wären heute sogleich als einschlägige Typen benennbar. Nicht nur in ihrer politischen Repräsentation zeigt sich ein je charakteristischer Gefühlston, auch in der alltäglichen Sprachpraxis. Besorgtheits-, Erregtheits-, Gekränktheitsperformer finden sich hier zuhauf und fühlen sich geborgen in habitualisiertem Affekt. Der »Wutbürger« und die »Schneeflocke« sind gefühlskulturelle Extreme, zwei Titel, die jeweils weltanschauliche, sogar geschlechtliche Eindeutigkeit verheißen.
Einige Einwände gegen diese Typisierung liegen dennoch nahe. Sie ist weder phänomenologisch trennscharf noch kategorial eindeutig. Das »Empört euch!« etwa ist akzeptierter, ja geforderter Teil heutiger Empfindsamkeit in politicis und ihres emotionalen Wertekanons. Schief ist der Typengegensatz auch in anderer Hinsicht: Positiv benennbare Werte und Haltungen, überhaupt Selbstschätzung besitzt nur die Empfindsamkeit. Niemand bekennt sich zur Empörung als solcher, sie heiße denn »Aufschrei«, »Aufstehen«, »Aufbegehren« oder ähnlich. Hingegen wird die Empfindsamkeit als Eigenwert ausgestellt und – im Verletzungsbefund, noch häufiger in der Verletzungsprophylaxe – vergewissert. Somit erweist sich der vermeintliche Antitypus »Wutbürger« politiksprachlich als bloßer Schmäh- und Kampfbegriff, phänomenologisch aber als Derivat der Empfindsamkeit. Letztere bildet die emotionale Basis ganz verschiedener politisch-kultureller Entäußerungsformen.
Verletzte oder verletzbare Gefühle in die politische Öffentlichkeit zu tragen, ihnen argumentgleichen Status zuzubilligen – dieses inzwischen ubiquitäre Phänomen wirft erstens philosophisch-psychologische, zweitens auch geschichtsphilosophische Fragen auf. Zu Ersterem: Wenn »Schneeflocken« die eigene Sensibilität wertschätzen,1 was ist dann die wertschätzende Instanz? Selbst ein gewisses Schaustellertum zugestanden, wer stellt hierbei was zur Schau? Ist die angezeigte Verletzlichkeit ein soziales Seelenkleid, ein im sozialen Raum objekthaft bewegter Avatar, der von einer noch empfindsameren Subjektivität gesteuert wird? Oder wacht im Gegenteil ein durchaus kühl kalkulierendes rationales, moralisches, ökonomisches, etwa empörungsökonomisches Ego über seine sensible Sozialgestalt? Zum Zweiten: Entsprang heutige Empfindsamkeit tatsächlich einer Steigerung rationaler und emotionaler Potenzen, wie es die meisten Modernenarrative und Fortschrittsschemata nahelegen? Oder verkehrte sich eine neuzeitlich etablierte Verstand-Gefühl-Hierarchie, manifest seit den 1960ern im Abschied vom Sublimierungsmodell, in der Feier und Pflege formweichen Gefühls durch sozial zuinnerst verrohte, weil restlos entsolidarisierte Seelen?2