Heft 860, Januar 2021

Die leere Mitte

von Jürgen Große

Nun ist es also doch so weit. Nach verlängerter Bauzeit und kräftig erhöhten Baukosten wurde das Humboldt-Forum eröffnet, wenigstens teilweise. Wie hatte vor vier Jahren der Initiator des Baus prophezeit? »Das neue Schloss von Berlin wird das erste sein, dass [!] die Bürger Deutschlands freiwillig bezahlten […]: Weil es zurückersehnt wurde.«1

Dennoch umgibt das »Schloss«, wie es statt »Humboldt Forum« meist genannt wird, eine Aura von Fragwürdigkeit. Nachträglichen Zweifel am Neubau und seiner urbanen Funktion hatte zuletzt Wolf R. Eisentraut geäußert. Der Dresdner Architekt war verantwortlich für den Mittelteil des Palastes der Republik. SED-Parteitage, sagte Eisentraut, hätten dort nur alle vier Jahre stattgefunden. Zwischendurch aber sei »der Palast ein öffentliches Haus« gewesen: »Konzert, Theater, Tanz, Bowling, Bilder ansehen, essen. Ein breites Funktionsangebot für einen Querschnitt der Bevölkerung. Das ist weg und wird ersetzt durch ein spezialisiertes Haus für Leute, die ein Museum besuchen wollen.« Kongresse könnten im Palastnachfolger nicht stattfinden, würden in Messehallen oder Zelte verlegt. »Für eine Stadt, die sich Weltstadt nennt, ist das lächerlich.«2

Das Geisterhaus

Tatsächlich kann man die gebaute Fiktion des Preußenschlosses nicht ansehen, ohne dahinter die geschleifte Realität eines anderen Hauses zu erblicken. Mit den Steuergeldern des DDR-Volks, auch mit dem Leben einiger Bauleute war der Palast einst bezahlt worden. Für einen Millionenbetrag hatte ihn die geeinte Republik saniert und provisorischem Veranstaltungsbetrieb überlassen, was an die Zwischennutzung des Schlosses nach 1919 erinnerte. Für den Abriss des Palasts, verschämt »Rückbau« genannt, votierte ein buntes Völkchen von Architekturnostalgikern (Wolf J. Siedler, Goerd Peschken), Nachwendeprominenten (Laurenz Demps, Wolfgang Thierse) und natürlich Wilhelm von Boddien, ein Landmaschinenhändler aus dem Norden. Er gründete den »Förderverein Berliner Schloss«.

Das Irreal-Fantastische des Neubaus hinsichtlich Funktion wie Gestalt spiegelt sich in der Chronologie. Bereits in den 1990ern stand fest, dass der Palast fallen müsse, später erst folgte die Entscheidung für den Schlossneubau, zuletzt machte man sich Gedanken um die Füllung der Bauhülse. »Leidenschaftlich wird über Fassaden und Formen debattiert«, schrieb 1995 der Spiegel, »fast nie über Sinn und Zweck von Gebäuden, noch seltener über Geld.«3 2009 endlich initiierte der Bund eine Gemeinnützige Stiftung »Berliner Schloss – Humboldt Forum« mit dem Auftrag, ein Nutzungskonzept zu entwickeln. Das Votum für das Schloss-Vorbild folgte einem damals verbreiteten Baugeschmack: historisierend, mit modernistischer Beimischung. Für diese Mentalität waren architektonische Realien wie die DDR-Nachkriegsmoderne in Berlins Innenstadt ebenso sehr Spielgut der Fantasie wie das 1950 ausradierte Schloss. Kaum kümmerte die Frage, welche Schlossepoche eigentlich zitiert werden sollte. »Mut zur Tradition« hatte sich Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer gewünscht und »dass dieses Land […] nicht jedem ästhetischen und historischen Ressentiment nachgibt«.4

Ressentiment und Raumgefühl

Die Bauzeugen der Ost-Moderne standen nicht unter Ressentimentschutz. Sie erinnerten an die Ära des Kalten Krieges. Ihn hatten Vollmers politische Freunde – gerade noch rechtzeitig! – auf der »1989 endgültig ermittelten richtigen Seite der Geschichte« (Panajotis Kondylis) beendet. Daher auch bei Rot-Grün frühzeitig ein entspanntes Verhältnis zu Palastabriss und Schlossnachbau. Ressentiments gegen die palastinterne Volkskammer, wo der bald vielfach beklagte DDR-Beitritt beschlossen worden war? Dergleichen Vermutungen zirkulierten nicht nur im Ostteil Berlins. Als Abrissmotiv relevanter dürfte jedoch ein Raumgefühl gewesen sein, das Licht, Luft und weite Prospekte, typisch sowohl für US-amerikanische als auch sowjetrussische Baumoderne, mit unheimlicher »Brache« assoziiert.5 Die Schlossbefürworter um Wilhelm von Boddien fanden in dem Ensemble aus Palast der Republik und Marx-Engels-Platz nichts als »Einöde«.6

Nach vollbrachtem Abriss sollte der Leere-Topos virulent bleiben. Man klagte nun über die »leere Mitte der Hauptstadt« (Süddeutsche Zeitung), über »Deutschlands leere Mitte« und den »leeren Fleck« (Deutschlandfunk), gar über »geschichtsphilosophische Leere« (Zeit). Die per »Rückbau« erzeugte und allmählich durch den Neubau – äußerlich – besetzte Leere hatte nämlich eine neue, diesmal innere Leere offenbart: Welcher kulturelle und materielle Sinn sollte die Schlosshülse befüllen? Ein »Museum für innere Leere mitten in Berlin« sah die Welt erstehen; »die Mitte ist schön und leer«, höhnte die Tageszeitung.

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