Heft 902, Juli 2024

Die deutsch-deutsche Verfassungskonkurrenz vor 75 Jahren

von Martin Sabrow

Der Wettbewerb zwischen West und Ost um die legitimere Verfassung verspricht auf den ersten Blick wenig Erkenntnisgewinn. Zu ungleich wirkt die Konkurrenz von Demokratie und Diktatur, zu durchsichtig gibt sich die ostdeutsche Parallelentwicklung als bloße Mimikry zu erkennen, mit der die Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) der Entwicklung in der Trizone folgten: Im September 1947 hatte die SED auf ihrem II. Parteitag einen Volksentscheid für »einen demokratischen Einheitsstaat mit dezentralisierter Verwaltung« gefordert und in der Folge eine »Volkskongressbewegung für Einheit und gerechten Frieden« ins Leben gerufen, die auf der Londoner Außenministerkonferenz vom 25. November bis 15. Dezember 1947 den gesamtdeutschen Willen zum Ausdruck bringen sollte, aber tatsächlich nur den SED-Willen repräsentierte; die sich sperrende Ost-CDU wurde durch Absetzung ihrer Vorsitzenden Jakob Kaiser und Ernst Lemmer gefügig gemacht.

Im Dezember 1947 tagt ein erster Volkskongress mit über zweitausend Delegierten aus Ost und West, der sich als gesamtdeutsches Vorparlament begreift und dem im März 1948 ein zweiter Volkskongress folgt. Aus ihm geht ein »Erster Deutscher Volksrat« hervor, dessen eingesetzter Verfassungsausschuss im Oktober 1948 einen Verfassungsvorschlag unterbreitet, der sich an einen Entwurf der SED von 1946 anlehnt. Die weitere Entwicklung vollzieht sich parallel zur Stalinisierung der SED, die im September 1948 ihre bisherige Strategie vom »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« widerruft, die paritätische Ämterbesetzung mit Kommunisten und Sozialdemokraten aufgibt und sich von einer Massen- zu einer Kaderpartei »neuen Typs« mit strenger Befehlshierarchie im Sinne des »demokratischen Zentralismus« wandelt. Der vom Ersten Volksrat am 19. März 1949 in überarbeiteter Form angenommene Verfassungsentwurf wird vom Dritten Volkskongress am 29./30. Mai 1949 bestätigt, dessen 1400 Mitglieder über eine Einheitsliste des »Demokratischen Blocks« gewählt wurden. Ein aus dem Volkskongress heraus gewählter Zweiter Deutscher Volksrat mit 330 Mitgliedern, von denen neunzig der SED angehören, konstituiert sich am 7. Oktober 1949 als Provisorische Volkskammer und setzt die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft.

Leicht durchschaubar folgt die ostdeutsche Verfassungsentwicklung aus propagandistischen Gründen dem Prinzip, dem westlichen Gegenüber den zeitlichen Vortritt zu lassen, um sich vom Odium der nationalen Spaltung zu entlasten: Erst nach dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee im August 1948 veröffentlicht der Verfassungsausschuss des Ersten Volksrats seinen Entwurf; erst nach der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 bestätigt der Dritte Volkskongress am 29./30. Mai den vom Volksrat vorgelegten Verfassungsentwurf; erst nach der Verkündung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am 23. Mai fasst die Volkskammer der DDR am 7. Oktober 1949 den entsprechenden Beschluss.

Doch die Duplizität der Ereignisse stiftete keine Korrespondenz der Akteure – die Geschichte des Grundgesetzes enthält in westdeutscher Perspektive keine relevante beziehungsgeschichtliche Dimension. Auf Gesprächsangebote des Deutschen Volksrats reagierte der Parlamentarische Rat hingegen anfänglich zurückhaltend und später kategorisch abweisend, weil es sich »bei dem Volksrat der Sowjetischen Besatzungszone […] nicht um eine deutsche Vertretung« handle. Dieser sei nämlich »nicht aus rechtlich anzuerkennenden Wahlen hervorgegangen, sondern von dem völlig regellos zusammengesetzten Volkskongreß berufen worden«.

Die Geschichtsschreibung folgte dem Horizont der Handelnden. In der Literatur zum Grundgesetz kommt das andere Deutschland kaum vor, und wenn, dann als bloßes totalitäres Gegenbild, das die Anstrengungen zur Schaffung einer freiheitlichen Verfassung lediglich zusätzlich motivierte. Das Grundgesetz wird in aller Regel teleologisch als »Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung« erzählt, und in dieser Erzählung hat das östliche Gegenbild einer nur demokratisch getünchten und 1989 als historischer Irrweg hinweggefegten Diktaturverfassung keinen narrativen Ort.

Offensive Rezeption im Osten

Gänzlich anders stellt sich die Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR dar. Ausführlich unterrichtete das Neue Deutschland seine ostdeutschen Leser im Juli 1948 über die Reaktion der westdeutschen Ministerpräsidenten auf die »Londoner Empfehlungen«, mit denen die drei Westalliierten die Gründung eines deutschen Weststaats vorantreiben wollten, und kommentierte empört: »Zunächst wurde das ›trizonale Organisationsstatut‹ erörtert. Um sich dem Volkszorn zu entziehen, erklärte man, daß ›kein westdeutscher Staat mit einer eigenen Regierung und Verfassung entstehen dürfe‹. In Wirklichkeit dient die hiesige Konferenz keinem anderen Ziel als der Schaffung des separaten Weststaates.«

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