Die deutsch-deutsche Verfassungskonkurrenz vor 75 Jahren
von Martin SabrowDer Wettbewerb zwischen West und Ost um die legitimere Verfassung verspricht auf den ersten Blick wenig Erkenntnisgewinn. Zu ungleich wirkt die Konkurrenz von Demokratie und Diktatur, zu durchsichtig gibt sich die ostdeutsche Parallelentwicklung als bloße Mimikry zu erkennen, mit der die Machthaber in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) der Entwicklung in der Trizone folgten: Im September 1947 hatte die SED auf ihrem II. Parteitag einen Volksentscheid für »einen demokratischen Einheitsstaat mit dezentralisierter Verwaltung« gefordert und in der Folge eine »Volkskongressbewegung für Einheit und gerechten Frieden« ins Leben gerufen, die auf der Londoner Außenministerkonferenz vom 25. November bis 15. Dezember 1947 den gesamtdeutschen Willen zum Ausdruck bringen sollte, aber tatsächlich nur den SED-Willen repräsentierte; die sich sperrende Ost-CDU wurde durch Absetzung ihrer Vorsitzenden Jakob Kaiser und Ernst Lemmer gefügig gemacht.
Im Dezember 1947 tagt ein erster Volkskongress mit über zweitausend Delegierten aus Ost und West, der sich als gesamtdeutsches Vorparlament begreift und dem im März 1948 ein zweiter Volkskongress folgt. Aus ihm geht ein »Erster Deutscher Volksrat« hervor, dessen eingesetzter Verfassungsausschuss im Oktober 1948 einen Verfassungsvorschlag unterbreitet, der sich an einen Entwurf der SED von 1946 anlehnt. Die weitere Entwicklung vollzieht sich parallel zur Stalinisierung der SED, die im September 1948 ihre bisherige Strategie vom »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« widerruft, die paritätische Ämterbesetzung mit Kommunisten und Sozialdemokraten aufgibt und sich von einer Massen- zu einer Kaderpartei »neuen Typs« mit strenger Befehlshierarchie im Sinne des »demokratischen Zentralismus« wandelt. Der vom Ersten Volksrat am 19. März 1949 in überarbeiteter Form angenommene Verfassungsentwurf wird vom Dritten Volkskongress am 29./30. Mai 1949 bestätigt, dessen 1400 Mitglieder über eine Einheitsliste des »Demokratischen Blocks« gewählt wurden. Ein aus dem Volkskongress heraus gewählter Zweiter Deutscher Volksrat mit 330 Mitgliedern, von denen neunzig der SED angehören, konstituiert sich am 7. Oktober 1949 als Provisorische Volkskammer und setzt die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft.