Heft 866, Juli 2021

Die Legende vom »Konformitätsdruck«

Zur zweifelhaften Kritik an der Corona-Debatte von Markus Linden

Zur zweifelhaften Kritik an der Corona-Debatte

Wenn medial präsente Intellektuelle ein »Manifest« veröffentlichen, in dem sie die Unterrepräsentation ihrer Ansichten beklagen, dürfte es sich um Vertreterinnen und Vertreter einer gesellschaftlichen Minderheitenposition handeln. Dies allein sagt freilich noch nichts über die Qualität des Anliegens selbst. Spätestens seit Tocquevilles Diktum von der »Tyrannei der Mehrheit« ist bekannt, wie sehr die Entstehung integrativer Mehrheiten von pluralistischen, institutionell verankerten und gewaltenteilig organisierten Diskussionsprozessen im Rahmen demokratischer Öffentlichkeit abhängig ist. Eben hier setzt die Klage der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen des Manifests der offenen Gesellschaft vom März dieses Jahres an.1

Neben allerlei Selbstverständlichkeiten will man »weg von der erregten Zuspitzung in den Medien, weg von Konformitätsdruck und einseitiger Lagerbildung in der Gesellschaft und weg von einem unguten Schwarz-Weiß-Denken«, womit ganz offensichtlich auf eine angebliche Diffamierung von Kritikern der Lockdown-Maßnahmen angespielt wird. Im eigentlichen Text des Manifests distanziert man sich von »Verschwörungsfanatikern, Extremisten und Demokratiefeinden«. Einige der abgedruckten Stellungnahmen prominenter Unterstützer erinnern aber zwangsläufig an die Rhetorik der Querdenker-Demonstranten, die die dargebotenen Narrative vom »Wegsperren«, vom fremdgesteuerten Journalismus, der Virologenherrschaft, dem »Totalitarismus« oder der neuen DDR dann noch mit Verschwörungstheorien à la »Great Reset« und »Plandemie« anreichern.

Nüchtern betrachtet hängen solche Überschneidungen damit zusammen, dass Verschwörungstheorien argumentativ mit Halbwahrheiten operieren.2 Gehen die Parallelen dann aber auch mit einer generellen Abwertung legitimer, also vom dominanten Diskurs lediglich abweichender Positionen einher? Gibt es den beklagten Konformitätsdruck in der Corona-Debatte, der Kritikerinnen und Kritiker der Maßnahmen unfair benachteiligt und a priori auf eine Stufe mit Wirrköpfen stellt? Haben etwa Journalisten »unkritisch alles übernommen, was ihnen serviert wurde von Pressestellen«, wie die Berufskollegin Franziska Augstein meint?3

Geschichtsvergessene Argumentationsketten

Die skizzierten Vorwürfe werden mitunter pseudosatirisch vorgebracht, wie in der Schauspieler-Kampagne »Allesdichtmachen«, oder sie kommen in einem theoretisch aufgehübschten Gewand daher – international etwa bei Giorgio Agamben, der in der Corona-Politik einen totalen Überwachungsstaat am Werk sieht, dessen Akteure eine Pandemie erfänden, um Menschen zu Objekten eines ständigen Ausnahmezustands zu machen.4 Endlich bestätigt sich damit sein Axiom vom beständigen exekutiven Totalitarismus. Auch Naomi Wolf wird allgemein zum linken Spektrum gerechnet, und auch sie ist anfällig für Verschwörungserzählungen. Die globalen Corona-Maßnahmen seien der letzte Schritt zum Faschismus, die Pandemie selbst von oben angekündigt und erzählt, so ihre These.5

Ulrike Guérot, Mitautorin des Manifests, distanziert sich von Corona-Verschwörungstheorien, teilt mit den beiden genannten Protagonisten aber die Brachialität der Argumentation. Sie beklagt die »Regression des Politischen auf die Garantie der Gesundheit«, die einen »Zivilisationsverlust« markiere,6 und konstatiert, »dass also jeder […], der sich als kritisch outet, im Grunde schon denunziert wird«.7 Guérot verweist, das macht sich immer gut, neben Agamben auch auf Hannah Arendt und spricht von einer gefährlichen »Atomisierung« der Gesellschaft.8 Hinzu komme die administrative Abtrennung und Unterdrückung eines ihr zufolge allgemein weitverbreiteten unguten »Bauchgefühls« durch eine allein an den menschlichen »Kopf« gerichtete Rhetorik des »Guten«. Dadurch würden die Maßnahmen gerechtfertigt und gleichzeitig die »Vernunft«, zu der eben jenes Bauchgefühl mit gehöre, außer Kraft gesetzt. In »Analogie« zu der von Arendt beschriebenen »Banalität des Bösen« entfalte eine »Banalität des Guten« ihre Wirkung, womit die Maßnahmen und der ihnen zugrundeliegende Diskurs auch hier, wenngleich verschwurbelt, als Totalitarismus in seiner menschenverachtenden Reinform gekennzeichnet werden.

Das Argument könnte heftiger nicht sein, denn an die Assoziation Adolf Eichmanns mit der Intention »Wir wollen nur das Gute« (Guérot) hat sich nicht einmal die AfD im Rahmen ihrer rechtsradikalen Ausformung der gerade allgemein populären Moralisierungskritik herangetraut. Wobei sich auch hier Ausnahmen finden. In seinem rechtsradikalen Hetztagebuch Acta diurna spricht Alexander Gaulands Referent Michael Klonovsky am 3. Oktober 2019 von »jenem aktuellen deutschen Politiker […], der letztlich aus demselben Grund wie Eichmann in die Politik gegangen ist, wenn auch gewissermaßen vom anderen Ende her (und der dem Obersturmbannführer sogar ein bisschen ähnelt)«. Gemeint ist Heiko Maas.

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