Le choix, c’est moi?
Fallstricke des neuen Präsidentialismus von Markus LindenDie Kampagnen bei den drei jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland waren von der Zuspitzung auf Personen geprägt. In einem »TV-Duell« im Privatfernsehen versuchte sich der Thüringer CDU-Mann Mario Voigt als einzig wahrer und die personelle Herausforderung mutig annehmender Gegner des örtlichen AfD-Chefs Björn Höcke zu inszenieren. Stärkste Partei in Thüringen wurde am 1. September die AfD. Dabei war ihr Spitzenmann Höcke wesentlich unbeliebter als Ministerpräsident Ramelow und verlor zudem seinen Wahlkreis (ebenso wie Voigt von der zweitplatzierten CDU).1 Beim Bündnis Sahra Wagenknecht ging die Personalisierungsstrategie mit einem Listenstimmenanteil von 15,8 Prozent hingegen auf. Die Namensgeberin stand zwar auf keinem Wahlzettel, ihr Konterfei prangte aber auf den Plakaten.
In Brandenburg erfuhr die präsidentielle Personalisierung eine weitere Zuspitzung. Der beliebte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) erklärte, nur dann im Amt bleiben zu wollen, wenn seine Partei auch als stärkste aus der Wahl hervorginge. Im Anschluss lobten der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und der Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner in seltener Einmütigkeit Woidkes Strategie: »Sie sind der Gary Cooper von Brandenburg. Im Western-Klassiker Zwölf Uhr mittags besiegt der einsame Sheriff das Böse – wie Sie die AfD in Brandenburg«, schrieb Wagner am Tag nach der Wahl.2 Kühnert erklärte nach ersten Prognosen im ZDF, es sei »die entscheidende Frage dieses Abends, wer auf Platz eins liegt«. Daraus ergebe sich, was die Wählenden »wirklich gesprochen haben«. Er verwechselte das parlamentarische mit einem präsidentiellen Regierungssystem.
So wurde Woidke am 22. September 2024 aufgrund des Zweitstimmenanteils der SPD als Wahlsieger gefeiert, obwohl ihm Koalitionspartner aus der demokratischen Mitte fehlten, mit seiner »Präsidentialisierung« der Wahl hatte er andere unter die Fünf-Prozent-Hürde gedrückt. Übrig für die SPD blieb neben der CDU nur das Bündnis Sahra Wagenknecht – diesmal nicht nur wieder ohne Kandidatur der Hauptperson, sondern konsequenterweise ganz ohne Wahlkreiskandidaturen. In Sachsen und Thüringen avancierte die Partei ebenfalls zu einer umworbenen potentiellen Königsmacherin. Ministerpräsidenten (Woidke und Michael Kretschmer) und solche, die es werden wollten (Mario Voigt), trafen sich mit der Co-Vorsitzenden des BSW (so Wagenknechts offizielle Position). Für sie hatte sich die Personalisierung ausgezahlt, bei Woidke kann man aus demokratietheoretischer Perspektive auch von einem Pyrrhussieg sprechen, denn die russlandtreue Kaderorganisation BSW könnte sich normalisieren.
Kohärenz durch Casting und Cäsarismus
Während die neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre einen emanzipatorischen Bottom-up-Demokratieanspruch formulierten, der Jürgen Habermas an eine verständigungsorientierte Öffentlichkeit glauben ließ und in den Grünen seinen basisdemokratischen Ausdruck fand, verläuft die Willensbildung des parteipolitischen Arms der heutigen »Friedensbewegung« von oben nach unten. So betreibt das BSW die wohl konsequenteste parteipolitische Personalisierungsstrategie, die zumindest die Bundesrepublik bislang erlebt hat. Die Mitglieder werden von der Führung persönlich ausgewählt, das angebliche Meinungsfreiheits- und Friedensprojekt hält die Grundsätze innerparteilicher Demokratie für obsolet.
Ein praktischer Grund dafür ist offensichtlich: Wagenknecht weiß, dass sie ihr teilweise stark entrücktes ideologisches und mediales Vorfeld nur begrenzt direkt aufnehmen kann, denn sonst könnte die Partei früh Schiffbruch erleiden. Die Unterstützung aus dem Kreis der in diesem Fall linksaffinen negativen Öffentlichkeit,3 also radikal system- und US-kritische Medien wie die »kritische Website« NachDenkSeiten, ist ihr dennoch gewiss. Die vorgegebene Grenzziehung verläuft bei Bundestagsmitgliedern wie Andrej Hunko und Sevim Dağdelen, die als Scharniere zum radikalen Vorfeld fungieren. Diskussionen um allzu offensichtliche Kreml-Treue wie Dieter Dehm oder irrlichternd-sprunghafte Verschwörungstheoretikerinnen will man sich beim BSW ersparen.
Auf der Homepage des BSW leuchten die Buttons »Förderer werden« und »Unterstützer werden«, der Link zum Mitgliedsantrag ist dagegen ziemlich versteckt. Dazu heißt es: »Wir wollen langsam und kontrolliert wachsen, um das Projekt nicht zu gefährden. Außerdem kann die Bearbeitung der Mitgliedsanträge aufgrund der noch sehr geringen Partei-Ressourcen einige Zeit in Anspruch nehmen.«4 Zum Thema »Inhalte« werden immerhin zehn Links mit Informationen bereitgestellt, zum Thema »Spenden« sind es dann fünfzehn.
Die Namensgebung des BSW erinnert an die italienische Lega Nord, aus der die »Lega per Salvini Premier« wurde, und an die kurzzeitige Umfirmierung der österreichischen ÖVP als Liste Sebastian Kurz. Silvio Berlusconi hatte es noch beim Fußballschlachtruf »Forza Italia« belassen, und auch der Hamburger Ex-Senator Ronald Barnabas Schill trat Anfang der 2000er Jahre nicht unter seinem Namen an, sondern als »Partei Rechtsstaatlicher Offensive«.
Gewiss, man findet Ähnliches auch in etwas anderem Kontext. Im semipräsidentiellen Frankreich spricht man vom Gaullismus, von der Partei des Präsidenten oder gleich von den Macronisten. Emmanuel Macron war wie Wagenknecht bekannt dafür, die Kandidaten seiner neuen, ihre Initialen mit seinem Namen teilenden Formation »En Marche!« (die seitdem auch unter den Labeln »La République en Marche«, »Ensemble pour la République« und »Renaissance« auftrat) zielgerichtet aus einer Schar von Bewerbern aussuchen zu lassen. Neukandidaturen, Geschlechterparität und eine inhaltlich breite Aufstellung wurden nach der Gründung medienwirksam als Ziele ausgegeben.5
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