Heft 893, Oktober 2023

»Eigentlich bin ich lieber Student als Professor«

Zu Erhard Schüttpelz’ »Deutland« von Thomas Steinfeld

Zu Erhard Schüttpelz’ »Deutland«

Ob es nicht erstaunlich sei, fragte Heinz Schlaffer vor vielen Jahren, dass »es Institutionen und Personen gibt, die den Auftrag haben, über so etwas Unernstes wie die Erfindungen der Dichter, über Fiktionen also, ernsthaft nachzudenken«. Die Antworten, die er in seinem Buch Poesie und Wissen aus dem Jahr 1990 gibt, erstrecken sich von der Antike bis zu den fünfziger Jahren. Sie enden mit einer Poetisierung der Literaturwissenschaft, für die ihm Friedrich Gundolf, Karl Reinhardt und Max Kommerell stehen, denen dann Benno von Wiese hinterherklappert. Aber was geschah danach?

Sein Fach, die Germanistik, wurde erst im Lauf der sechziger und siebziger Jahre zu einem Massenunternehmen. Und war bis zu dieser Zeit das eigentlich Philologische, also die Grammatik und die Textkritik, noch ein selbstverständlicher Teil des Gewerbes gewesen, so wurde die Germanistik fortan von der Interpretation literarischer Werke beherrscht – mit der Folge, dass es in dieser Disziplin, ähnlich wie in der Philosophie, kaum mehr Fortschritte der Erkenntnis gibt. Denn zwar nimmt jede neue Interpretation für sich in Anspruch, Ergänzung, Korrektur oder Verbesserung vorausgegangener Deutungen zu sein. Es stellt sich aber selten ein dauerhafter Gewinn ein. Eine Akkumulation des Wissens findet kaum statt. Eher als dass ältere oder unpassende Interpretationen widerlegt werden, lässt man sie zurück oder tut sie beiseite. Allenfalls lassen sich Konstellationen erkennen, ohne logische oder zeitliche Prioritäten.

Deutland nennt der Siegener Medientheoretiker Erhard Schüttpelz sein schmales Buch, das sich der »Konvergenz« von Werkinterpretation und Literaturbegriff widmet, die eine solche Entwicklung überhaupt erst ermöglichte. »Deutland« liegt in Deutschland, aber nicht nur dort: In Frankreich, im Land der »explication de texte«, liegen die Verhältnisse ähnlich, und in den Vereinigten Staaten hat man sich, seitdem sich die literaturwissenschaftlichen und philologischen Institutionen unter den Einfluss der »theory« begaben, ebenfalls im »Deutland« niedergelassen.

Das »Deutland«, so Schüttpelz, befinde sich überall dort, wo Texte »agonal«, was heißt: als Gegenstand eines potentiell unendlichen Bedarfs an Deutung, behandelt werden. Dieses agonale Interpretieren sei »eine moderne Praxis, die spezifisch moderne Institutionen« voraussetze: ein hohes Maß an Professionalisierung, ebenso feste wie ausgedehnte Strukturen, eine öffentliche Finanzierung, eine staatlich gewollte Konkurrenz unter allen Beteiligten und vieles andere mehr. Aber warum das alles? Wer hätte Heinz Schlaffers Frage je beantwortet?

Seit den sechziger Jahren gibt es eine kritische Geschichtsschreibung in den Fächern der philosophischen Fakultät: zuerst in Form der Ideologiekritik, dann in Gestalt einer sich rasch ausdehnenden Wissenschaftsgeschichte. Klaus Weimars Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte vor über dreißig Jahren nicht nur einen Gegenstand, sondern auch einen Standard, der nach wie vor gilt, etwa für die Marbacher »Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik«.

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