Exodus
The New Institute in Hamburg von Markus Steinmayr»Hamburg is our home. The world is our habitat. The future is our concern.« Wer das liest, denkt nicht unbedingt an eine wissenschaftliche Institution, sondern an ein global agierendes Unternehmen. Tatsächlich aber handelt es sich um den Claim des Hamburger The New Institute, einer von dem Hamburger Unternehmer Erck Rickmers 2021 gegründeten wissenschaftlichen Institution, die dadurch ihre globale Identität, ihre geradezu unbedingte Zukunftsorientierung und regionale Verwurzelung kommunizieren möchte.
The New Institute kommt als Institution und als gesellschaftlicher Ort der Neubestimmung von Aufgaben und Möglichkeiten der Geistes- und Sozialwissenschaften zur rechten Zeit, und zwar deshalb, weil seine immer sichtbarer werdende Rolle in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in eine Lage interveniert, in der man vermehrt nach der Praxis der Geisteswissenschaften fragt.
Wenn es stimmt, dass Universitäten oder bildungsferne Rektorate und Präsidien die Geistes- und Sozialwissenschaften ohne Drittmittelpotential an den Rand drängen, dann ist es nur konsequent, dass die Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften aus der Universität in ein Institute for Advanced Study wandert. Denn nur dort, im Jenseits des universitären Betriebs, lassen sich solche Sinnfragen möglicherweise erst stellen: Je mehr Hochschulleitungen sich in Management-Mimikry üben und Bildungsferne zelebrieren, je mehr die Geisteswissenschaften institutionell wertlos und zunehmend auch gesellschaftlich ortlos werden, desto größer wird die Notwendigkeit einer Befreiung aus diesen Zwängen. Und desto sichtbarer wird eine Art Exodus, der ins gelobte Land der Institutes for Advanced Study führt.
Vergesellschaftet Euch
Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke: Was sich wie das Line-up eines transdisziplinären geisteswissenschaftlichen Kongresses liest, sind die Verfasserinnen und Verfasser einer Konsortialarbeit, die unter dem Titel Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung – Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Ganz zu Beginn des Bands findet man einen Imperativ: »Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen sich enger an die Gesellschaft koppeln.« Vergesellschaftet Euch, liebe Geistes- und Sozialwissenschaftler, verlasst das Studierzimmer, werdet Frauen und Männer der Praxis. Die Ortsbestimmung im Diskurs setzt einen Unterschied zur instrumentellen Vernunft der Natur- und Ingenieurswissenschaften. Daran schließt die Rhetorik der Empfehlung (Neugestaltung der Institutionen – hin zu einer Kultur der Kreativität) an, um zuletzt den Leser auf den Weg zur neuen Aufklärung zu setzen. Dieser Weg, so kann man sagen, wird kein leichter sein. Aus diesem Grund endet das Papier mit konkreten Vorschlägen für die nächsten Schritte und einem Resümee.
Es fällt sogleich ins Auge, dass der Band sich wohltuend von den üblichen Textwüsten geisteswissenschaftlicher Traktate abhebt. Das fängt mit dem Titelbild an. Die Abbildung auf dem Einband spielt gekonnt mit der Lichtmetaphorik der Aufklärung. Gleichzeitig sind da die Streifen, die die Sonne verdunkeln. Die wichtigen Thesen sind durch Bullet Points vom Fließtext abgehoben, die Schrift ist in diesen Passagen serifenfrei und großzügiger spationiert. Der Inhalt erschließt sich auch in den Absätzen der Bullet Points. Man muss also nicht alles lesen.
Anders als im Untertitel angekündigt, werden im Text Geistes- und Sozialwissenschaften miteinander verhandelt. Der Frage, ob man überhaupt von den Geistes- und Sozialwissenschaften als in sich konsistenten Einheiten disziplinären Denkens sprechen kann, stellt der Text sich nicht. Die Einheit der Wissenschaften, so erfährt man, sei notwendig, um die Herausforderungen der Zukunft annehmen zu können und denkerisch zu bewältigen. Sie wird als gemeinsame Aufgabe und Arbeit in Szene gesetzt, als konkrete Praxis der Intervention in Bereiche, die nicht oder nicht nur genuin geistes- oder sozialwissenschaftliches Terrain sind: Fragen der Lenkung von Volkswirtschaften und der Ökologie etwa. Die Geisteswissenschaften und, etwas eingeschränkt, die Sozialwissenschaften, die sich immer als Ensemble aus Politikwissenschaft, Soziologie und politischer Ökonomie verstanden haben, werden als postdisziplinäre Einheiten begriffen, die eine gemeinsame Praxis des Fragens und Forschens verbindet.