Imperialer Selbstbetrug
von Fara DabhoiwalaIm Sommer 1932 kam Eric Williams aus der britischen Kolonie Trinidad nach England. Wie ein Großteil der Inselbevölkerung war seine Familie so arm, dass er und seine Geschwister kaum je Milch zu trinken bekommen hatten. Doch von frühester Jugend an setzte ihn sein Vater, ein desillusionierter Postbeamter, unter Druck, später einmal eine akademische Karriere einzuschlagen. Eine Universität gab es auf den Westindischen Inseln nicht; nur wenige Trinidader kamen über einen Grundschulabschluss hinaus, und so gut wie alle akademischen Berufe waren Weißen vorbehalten. Dennoch gelang es Williams, eines der begehrten Regierungsstipendien zu bekommen, so dass er auch über das elfte Lebensjahr hinaus weiter zur Schule gehen konnte. Im Anschluss daran erhielt er ein noch selteneres Stipendium, um die Sekundarschule abzuschließen, und schließlich, nach drei Jahren erfolgloser Bewerbungen, eines der beiden Stipendien für eine Britische Universität, die pro Jahr auf der Insel vergeben wurden. Er bestieg das Schiff Richtung Oxford, um sich dort in Geschichte einzuschreiben.
Der weiße Engländer, der bei der Schulbehörde in Trinidad für solche Fälle zuständig war, schrieb ihm eine Empfehlung für eines der universitären Colleges, die reichen und altehrwürdigen Zentren des intellektuellen und gesellschaftlichen Lebens. »Herr Williams«, so schrieb er, »ist nicht europäischer Abstammung, sondern ein farbiger Junge, wenn auch nicht schwarz.« Doch es nützte nichts. Williams begann sein Studium in Oxford nicht an einem College, sondern als Mitglied der St. Catherine’s Society, einer Vereinigung für Studenten, die sich die hohen Kosten für ein College nicht leisten konnten.
In Oxford blühte Williams auf. Er hatte einen unstillbaren Lesehunger, schloss als Klassenbester ab und bewarb sich um ein Stipendium des All Souls College, Oxfords höchste Auszeichnung. Für eine Doktorarbeit begann er, über das Ende der britischen Sklaverei in der Karibik zu forschen – ein Thema, das alles andere als angesagt war. Sogar in Trinidad wurde ausschließlich die Geschichte Europas unterrichtet. Von den Fakultätsmitgliedern in Oxford forschte eine Handvoll zur Kolonialgeschichte, die der Rest, wie Williams feststellte, mit »allgemeiner Verachtung« betrachtete.
In jeder anderen Hinsicht war die Universität allerdings nicht nur stolz auf das Empire, sondern trug zu dessen Erhalt bei. Die Dozenten lehrten die »unsichtbare, über allem wachende Vorsehung, die die Fortentwicklung der angelsächsischen Rasse lenkt«, mahnten zu »Ehrfurcht angesichts des majestätischen Gefüges der britischen [imperialen] Entwicklung« und vermittelten vor allem die erbauliche Botschaft, dass das britische Empire ungeachtet seiner vergangenen oder gegenwärtigen Unzulänglichkeiten ein zutiefst moralisches Unternehmen sei, dessen Ausbreitung den zahllosen unterworfenen Völkern zugutekomme. Oxford-Absolventen besetzten auf der ganzen Welt die oberen Ränge der Kolonialverwaltung. Die Professoren der Universität kamen oft aus dem Auslandsdienst und hatten politischen Einfluss. Mehr als jede andere Universität förderte Oxford tatkräftig den Imperialismus, das Spektrum der Einflussnahme reichte von informellen Gesprächen auf Regierungskorridoren bis hin zur Indoktrination von Schulkindern. Zwischen 1911 und 1954 erklärte ein Bestseller der Oxford University Press, die von Rudyard Kipling und C. R. L. Fletcher, Fellows der Oxford-Colleges All Souls und Magdalen, verfasste History of England, den Mädchen und Jungen, dass die Besiedlung Australiens einfach gewesen sei, da man dort nicht mehr vorfand »als ein paar elende Schwarze, die kaum im Stand waren, auch nur Pfeil und Bogen zu benutzen«; dass in Afrika »die Eingeborenen überall die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit unserer Herrschaft willkommen heißen« und dass die Bewohner der Westindischen Inseln »faul, lasterhaft und unfähig zu jeglicher ernsthaften Besserung oder Arbeit [sind], es sei denn unter Zwang. In einem solchen Klima reichen ein paar Bananen einem Neger voll und ganz für seinen Lebensunterhalt; warum sollte er arbeiten, um mehr zu bekommen? Er ist ganz glücklich und gänzlich unnütz.«
Kein Winkel in Oxford war der imperialen Mission ergebener als All Souls. Seine prachtvollen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert wurden von der gewaltigen Codrington Library beherrscht, benannt nach dem karibischen Sklavenbesitzer, dessen Spenden zum Reichtum seines alten Colleges beigetragen hatten. Zu dessen ehemaligen und aktuellen Fellows zählten Kabinettsminister, leitende Verwaltungsbeamte des Empire (darunter drei indische Vizekönige) und der langjährige Herausgeber der Times, ein immens einflussreicher und tatkräftiger Sachwalter und Verfechter des Kolonialismus.
Am All Souls College war auch der Oxford-Professor für Kolonialgeschichte Reginald Coupland beheimatet, dessen vielgelobte Schriften die herrschende Auffassung verbreiteten, dass es sich beim britischen Empire um eine große zivilisatorische Unternehmung handelte. Durch die gütige und fürsorgliche »Treuhänderschaft« von weniger entwickelten Völkern, so erklärte Coupland, würde sich das Empire in absehbarer Zeit zu einem »Commonwealth« von reifen, sich selbst regierenden Nationen entwickeln – natürlich unter Führung der Briten. Als Gandhi 1931 Oxford besuchte, nachdem er eine Massenkampagne des zivilen Ungehorsams quer durch den indischen Subkontinent ausgelöst hatte, erinnerte Coupland ihn an die historische Logik der vorbestimmten imperialen Entwicklung, die besagte, dass nur Geduld und Kooperation, nicht aber offener Ungehorsam eines Tages zur Selbstherrschaft führen könnten. (Er sei zwar nur ein Bauer und kein Geschichtsprofessor, entgegnete Gandhi kühl, doch seinem Verständnis nach hätten weder die Amerikaner noch die Iren ihre Unabhängigkeit auf diese Weise erlangt.)
Wie auch andere Kolonialhistoriker gestaltete Coupland die Politik des britischen Empire mit. 1937 kam sein Bericht für die Peel-Kommission, die von der britischen Mandatsregierung in Palästina eingesetzt worden war, zu dem Schluss, dass der Konflikt zwischen Arabern und Juden »nicht zu beherrschen« sei, da die beiden »Rassen« von Natur aus antagonistisch seien. Die einzige Lösung, die der Bericht empfahl, war die Aufteilung des Landes. In den frühen 1940er Jahren war Coupland an gescheiterten Bemühungen der Regierung beteiligt, indische Nationalisten davon zu überzeugen, die britischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen und ihre Forderungen nach Unabhängigkeit zunächst auszusetzen. Mit seiner ausführlichen Analyse des »indischen Problems« für seinen All-Souls-Kollegen Leo Amery, zu der Zeit Minister für Indien und Burma, war er einer der ersten, der von Aufteilung sprach. Als sein Vorschlag 1947 hastig umgesetzt wurde, wurde wiederum ein anderer Fellow des All Souls College – ein Anwalt, der bis dahin nie weiter nach Osten gereist war als bis Paris – damit beauftragt, in aller Eile die verhängnisvollen Grenzlinien zu ziehen, die Pakistan von Indien trennten und etwa zehn bis zwanzig Millionen Flüchtlinge sowie unabsehbares Blutvergießen zum Ergebnis hatten.
1935 wurde Eric Williams von den Fellows von All Souls interviewt. Die Erinnerung daran schmerzte ihn auch noch mehr als dreißig Jahre später – nicht, weil er seinerzeit Angst gehabt hätte, gegen bessere Kandidaten zu verlieren, sondern weil er als rassisch minderwertig behandelt wurde. Ob seiner Meinung nach, so wurde er gefragt, »fortgeschrittene Völker ein Recht dazu haben, die Vormundschaft über rückständige Völker zu übernehmen?« Ein Fellow verteidigte die kurz zuvor erfolgte italienische Besetzung Äthiopiens, der einzigen freien schwarzafrikanischen Nation neben Liberia. Ein anderer starrte Williams wegen seiner Hautfarbe unverblümt auf der Straße an. Es war klar, dass »Eingeborene« dort nicht hingehörten. Der Direktor von All Souls gab ihm den Rat, nach Trinidad zurückzukehren und dort seinem Volk zu dienen. Das Gleiche tat der Dekan von St. Catherine’s: »Ihr Westindier seid zu sehr darauf aus, hier Posten zu bekommen, und nehmt den Engländern die Stellen weg.« Für Engländer war es ein natürliches Recht, sich überall auf der ganzen Welt niederzulassen und über andere zu herrschen, doch wenn jemand aus den Kolonien und mit dunklerer Haut davon ausging, dass er es umgekehrt genauso halten könnte, war dies unerträglich.
Williams kehrte schließlich in die Karibik zurück, davon überzeugt, dass die Kenntnis der eigenen Geschichte der Schlüssel zum Identitätsgefühl eines Volkes war. Innerhalb kurzer Zeit verwandelte sich seine Bildungsmission, bei der er unter freiem Himmel vor Menschenmengen über die Geschichte der Karibik und der Sklaverei vortrug, in eine politische Kampagne zur Befreiung von der britischen Herrschaft. Dabei verlor er den Zusammenhang zwischen der Politik seiner Gegenwart und dem Verständnis der Vergangenheit nie aus dem Blick. Nicht lange nachdem er 1962 den neuen Staat Trinidad und Tobago in die Unabhängigkeit geführt hatte, stellte er fest, dass die Herablassung, mit der Großbritannien seine ehemaligen karibischen Kolonien behandelte, im Prinzip von der Tatsache her rührte, »dass sie so viele Jahrhunderte lang als Satelliten betrachtet und einer höchst demütigenden Propaganda unterworfen« worden waren – und am schlimmsten waren dabei »die Heucheleien, die Ungereimtheiten und die Vorurteile der Historiker aus dem Mutterland«.
Dagegen sollte die Unabhängigkeit mit der Schaffung einer nationalen Identität einen Neuanfang markieren. Entgegen der Behauptung der Briten war die Unabhängigkeit nicht die Vollendung des imperialen Projekts, die Rechtfertigung für ihre wohltätige Fürsorge gegenüber den »untergebenen Rassen«. Diese Art der Geschichtstheorie sei nur darauf aus gewesen, »das Unhaltbare zu rechtfertigen und Belege für vorgefasste und überholte Vorurteile zu finden«. Williams zielte auf Coupland, als er die moralische Rechtfertigung des Empire vernichtend kritisierte: »Britische Historiker schrieben fast so, als ob Großbritannien die Negersklaverei nur um der Befriedigung willen eingeführt hätte, sie abschaffen zu können.«
Doch alte geistige Gewohnheiten sterben nur schwer. »Ich war […] für das britische Empire«, erinnerte sich ein anderer Historiker des All Souls College, sechzig Jahre nachdem er Williams für das Stipendium interviewt hatte. Waren denn »Afrikaner und Inder nicht glücklicher in jenen besseren Tagen, als man sie davon abhielt, sich gegenseitig zu massakrieren?« Solche Ansichten sind immer noch weit verbreitet. Als 2016 afrikanische und andere antirassistische Studentengruppen in Oxford eine Kampagne begannen, um die Statue des großen imperialistischen Stiftungsgebers Cecil Rhodes zu entfernen (was bis heute nicht erfolgt ist), reagierte die Universitätsleitung aggressiv. Der Universitätskanzler Chris Patten, der in den 1960er Jahren in Oxford Geschichte studiert hatte und letzter britischer Gouverneur Hongkongs war, sagte gegenüber der BBC, wenn Menschen nicht bereit seien, »geistige Großzügigkeit gegenüber Rhodes und gegenüber der Geschichte zu zeigen«, dann gehörten sie nicht nach Oxford: »Vielleicht sollten sie darüber nachdenken, ihre Bildung an einem anderen Ort zu erwerben.« Mit anderen Worten: Wenn es euch hier nicht gefällt, dann geht doch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.
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