Heft 856, September 2020

Le Roi-Machine

Der ungewöhnliche Intellektuelle Pierre Rosanvallon von Jan-Werner Müller

Der ungewöhnliche Intellektuelle Pierre Rosanvallon

»Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht.« So beginnt Pierre Rosanvallons Buch Die gute Regierung. Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte, so dessen Grundthese, habe eine politische Verschiebung weg vom Modell der Demokratie parlamentarisch repräsentativen Zuschnitts, hin zu einem Primat der Exekutive stattgefunden. In mehr und mehr Ländern lasse sich eine »Tendenz zur Präsidialisierung« beobachten, selbst da, wo es sich, wie im Fall Großbritanniens, nominell weiterhin um parlamentarische Demokratien handele.

Aber wie hätte eine wirklich demokratische Exekutive eigentlich auszusehen? Rousseau war der Ansicht, nur ein »Volk von Göttern« sei in der Lage, sich selbst demokratisch zu regieren: Zwar habe die Gesetzgebung von der Gesamtheit der Bürger auszugehen. Die Anwendung der Gesetze müsse jedoch in den Händen besonders qualifizierter Männer, einer Art aristokratischer Kaste, liegen. Rosanvallon zeigt eine Alternative zu einem derart unverhohlenen Elitismus auf: Er schlägt vor, die präsidiale Macht durch »permanente Demokratie«, ständige Interaktion zwischen Regierenden und Regierten, zu ergänzen.

Auch wenn die französische Ausgabe von Die gute Regierung bereits zwei Jahre vor dem Aufstieg Emmanuel Macrons erschien, ist die Versuchung groß, das Buch im Licht von Macrons eigenwilligem Regierungsstil zu lesen: Auf Konsultationen der Bevölkerung, für die in riesigem Ausmaß Beschwerden gesammelt und ausgewertet werden, folgt eine »jupiterhafte« Phase, während der Macron Lösungen von oben verordnet. Rosanvallons Buch wirkt streckenweise wie eine Blaupause für den »Macronisme«; an anderen Stellen wiederum liefert es Erklärungen dafür, woran dieses Modell in der Praxis krankt.

Unter Frankreichs Intellektuellen ist Pierre Rosanvallon immer schon durch sein ungewöhnliches Profil aufgefallen (seine jüngst erschienene Autobiografie bestätigt diesen Eindruck). Im Gegensatz zu vielen anderen französischen Denkern des 20. Jahrhunderts begann er seine Karriere nicht an einer der Eliteuniversitäten des Landes. In den 1970er Jahren studierte er zunächst Betriebswirtschaft, um anschließend so etwas wie der Hausphilosoph der Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT) zu werden, einer Gewerkschaft mit katholischen Wurzeln und resolut antikommunistischer Haltung, heute die größte des Landes. Er war Teil der sogenannten deuxième gauche (nicht zu verwechseln mit den maoistischen und trotzkistischen Linken der Siebziger), die einige Schlüsselideen der Achtundsechzigerbewegung aufgenommen hatte: etwa die Feindseligkeit gegenüber aller Bürokratie oder auch die Wertschätzung individueller wie kollektiver Autonomie. Der bekannteste Politiker, den die deuxième gauche hervorgebracht hat, war Michel Rocard, der von 1988 bis 1991 das Amt des Premierministers innehatte, aber als möglicher Präsidentschaftskandidat der Sozialisten den Intrigen eines François Mitterrand zum Opfer fiel.

Irgendwann entschied Rosanvallon sich dafür, seine Karriere als philosophisch anspruchsvoller Gewerkschaftsapparatschik zugunsten einer Universitätslaufbahn aufzugeben (er stand in engem Kontakt mit dem liberalen Historiker François Furet sowie mit Michel Foucault). Er ging an die École des Hautes Études en Sciences Sociales, wo man sich auf keine spezifische Disziplin spezialisieren musste, erhielt sich dabei die Möglichkeit, auch weiterhin seiner Tätigkeit als agitateur d’idées, wie er es nannte, nachzugehen, wobei er eine entscheidende Rolle bei dem – nach französischen Standards – marktfreundlichen Thinktank Fondation Saint-Simon spielte. Ebenso wie Furet zeigte er sich hocherfreut über den Bedeutungsverlust, den sowohl die Kommunisten als auch die Gaullisten während der 1980er Jahre erlitten. 1989, im zweihundertsten Jubiläumsjahr der Revolution, war Frankreich zu einer gemäßigten république du centre geworden.

2001 wurde Rosanvallon an das Collège de France berufen, die angesehenste intellektuelle Institution des Landes. Mit dem thematischen Zuschnitt seines Lehrstuhls, »histoire moderne et contemporaine du politique« – Rosanvallon durfte ihn, wie alle Professoren am Collège, nach Gutdünken selbst bestimmen –, steckte er ein Terrain zwischen Politikgeschichte und analytischer politischer Theorie ab, das in der englischsprachigen Welt weitgehend Niemandsland darstellt. Wie Foucault vor ihm investiert Rosanvallon viel Zeit in Archivarbeit: Unter seinen über zwanzig Monografien finden sich eine Trilogie zur Geschichte Frankreichs sowie vier Bände zur jüngeren Entwicklung der Demokratie im weiteren Sinn, in denen er sich auch intensiv mit der Zeitgeschichte Großbritanniens und der USA auseinandersetzt.

Dafür hat Rosanvallon, wie man das auch von den Mitgliedern der Cambridge School kennt, obskure Pamphlete und staatstheoretische Traktate ausgegraben, um aufzuzeigen, wie sich das Vokabular und die Leitbilder auf dem Feld der Politik im Lauf der Zeit verändert haben: Theoreme vergangener Zeiten sollen im jeweiligen historischen Kontext verstanden und nicht mit dem theoretischen Instrumentarium der Gegenwart traktiert werden. Dabei macht es seine Betonung der engen Verbindung zwischen politischer Theorie und politischen Institutionen, insbesondere aber der Demokratie als gelebter Erfahrung, schwer, aus Rosanvallons Vorgehen eine spezifische Methode zu destillieren.

Er selbst hat sich als Mann des 19. Jahrhunderts beschrieben, als Schüler der sciences morales et politiques, für den Fachgrenzen irrelevant sind. Je näher er der Gegenwart kommt, umso mehr versucht er, Veränderungen in einen Deutungsrahmen einzupassen, der seinen eigenen Begriffen verpflichtet ist – und umso präskriptiver wird sein Werk. Das ist riskant. Wer so genau darauf achtet, wie institutioneller Wandel vor sich geht, diesen dabei aber zugleich dezidiert normativ bewertet, rutscht schnell aus der Position des theoriefreudigen Zeitgeschichtlers in die des Hofphilosophen, der jedweder zeitgenössischen Entwicklung Legitimität zu verleihen in der Lage ist.

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