Demokratie für Verlierer
von Jan-Werner MüllerDonald Trump hat uns keine Wahl gelassen: Man muss die oft unterschätzte Rolle des fairen Verlierers in der Demokratie besser verstehen, begründen und verteidigen. Schon bei dem Rennen um die Präsidentschaft 2016 hatte der Reality-TV-Star angekündigt, einen Sieg seiner Gegnerin möglicherweise nicht anzuerkennen; 2020 machte er dann Ernst mit seinem Vorhaben, die Wahl zu stehlen, indem er seinen Konkurrenten beschuldigte, die Wahl gestohlen zu haben. Bis heute hat Trump seine Niederlage nicht eingestanden, und wird dies wohl auch nie tun. Dass Rechtspopulisten wie Trump, die sich als einzig legitime Vertreter des vermeintlich wahren Volkes inszenieren, die Ansicht vertreten, eigentlich gar nicht verlieren zu können, hat seine eigene Logik. Doch wie so oft, wenn Populisten die liberale Demokratie herausfordern, merken wir, dass wir viel zu viel für selbstverständlich erachtet haben. Uns fehlt eine Theorie des guten Verlierens.
Wahlen sind ein Verfahren zur Erzeugung kollektiv bindender Entscheidungen für ein Gemeinwesen. Natürlich gibt es andere Möglichkeiten, solche Entscheidungen herbeizuführen: »Allein der Diktator entscheidet« ist gleichfalls eine Regel. Und wenn es nur darum geht, faktisch zu klären, wer die Macht hat und wer nicht, könnte man auch auf das Ergebnis eines Bürgerkriegs warten. Im Unterschied dazu verspricht die Demokratie, Entscheidungen auf friedliche Weise und auf der Grundlage herbeizuführen, dass jeder Bürger dieselbe Chance hat, daran teilzuhaben. Eine knallhart realistische Sichtweise auf Politik erinnert daran, dass Wahlen eigentlich immer im Schatten des Bürgerkriegs stattfinden. Der Politikwissenschaftler Adam Przeworski, Verfechter einer klapperdürren Minimaldefinition von Demokratie, behauptet, Wahlen erlaubten es potentiellen Konfliktparteien, ihre Muskeln spielen zu lassen, ohne dass sie zuschlagen müssten. Wer weniger numerische Stärke habe, finde sich mit Opposition ab. Insofern seien auch noch die mit härtesten verbalen Bandagen geführten Wahlkampfschlachten eigentlich eine friedenssichernde Maßnahme.
Warum Populisten nie verlieren können
Naturgemäß können nicht alle als Sieger aus einer Wahl hervorgehen. Und selbst die Gewinner fühlen sich möglicherweise nicht recht wohl mit einem Sieg. Sie erhielten vielleicht Tweets, in denen Sätze wie Folgende standen: »Die Verlierer wollen all das, was du hast. Gib es ihnen nicht! Sei stark, und du wirst gedeihen; sei schwach, und du stirbst.« Aber auch ohne Trump’sches Hintergrundrauschen, das sogar noch den Gewinnern Angst einjagen soll, kann man sich über die scheinbare politische Schizophrenie, die Verlierern abgefordert wird, wundern. Sie stimmen nicht mit den Ideen des Wahlsiegers überein, sind aber gleichzeitig der Ansicht, dass diese Ideen ihren Ausdruck in für alle verbindlichen Gesetzen finden sollen. Von Besiegten wird erwartet, »eine von ihnen nicht gebilligte Politik mit guter Miene zu ertragen«, so ein Politikbeobachter, der sich viel auf Realismus zugutehielt: Walter Lippmann, der einflussreichste amerikanische Journalist des 20. Jahrhunderts. Nur: Warum immer gute Miene zu einem Spiel machen, das man vielleicht mit guten Gründen für ein böses halten könnte?
Es ist nicht immer ausreichend verstanden worden, dass das mit dem Verlieren in einer Demokratie eine komplizierte Sache sein kann. Dabei geht es nicht um Manieren beim formvollendeten Eingeständnis der Niederlage, wie der Südstaaten-Gentleman Al Gore sie an den Tag legte, als er George W. Bushs Sieg im Dezember 2000 nicht nur mit einem etwas künstlichen Lächeln anerkannte, sondern auch hinzufügte: »Für mich ist es an der Zeit zu gehen.«
Wichtig ist stattdessen, zu erkennen, dass manche Formen des Verlierens die Demokratie aktiv unterminieren, während andere sie stärken. Am auffälligsten ist heute die Tatsache, dass Populisten oft, wenn auch nicht immer, eine Strategie wählen, die für sie vollkommen sinnvoll ist, aber demokratische Politik beschädigt – und das auch, wenn die betreffenden Parteien niemals die Hebel der Macht zu fassen bekommen. Populistische Parteien, die bei Wahlen nicht sonderlich gut abschneiden, stehen vor einem offenkundigen Widerspruch. Wie kann es sein, dass die Populisten sich als die einzigen moralisch legitimen Repräsentanten des Volkes begreifen und dennoch bei den Wahlen keine überwältigende Mehrheit erzielen?
Nicht alle Populisten entscheiden sich für den scheinbar einfachsten Ausweg aus diesem Widerspruch. Aber viele tun es, wenn sie, als vermeintlich einzige Vertreter der »schweigenden Mehrheit« ungefähr Folgendes suggerieren: Wenn die schweigende Mehrheit sprechen kann, müssen die Populisten definitionsgemäß immer bereits an der Macht sein; sind sie nicht an der Macht, so hat man es offenbar nicht mit einer schweigenden, sondern einer zum Schweigen gebrachten Mehrheit zu tun. Mit anderen Worten: Irgendjemand oder irgendetwas muss die Mehrheit daran gehindert haben, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. So insinuieren Populisten häufig, sie hätten die Wahl gar nicht wirklich verloren, vielmehr müssten korrupte Eliten den Ausgang hinter den Kulissen manipuliert haben.
Auch wenn am Ende nachgegeben wird – es wird auch nachgetreten: Norbert Hofer, seinem Selbstverständnis nach ein Mann des Volkes, musste sich im österreichischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 einem grünen Professor aus Wien – scheinbar liberale Elite pur – geschlagen geben. Hofer konnte sich nicht die Bemerkung verkneifen, Alexander Van der Bellen sei gezählt, aber nicht gewählt. Ganz so, als gäbe es da neben der pedantischen Wahlzettelauszählung noch eine geradezu mystische Art und Weise, vom Volk auserkoren zu werden. Ein potentiell autoritäres Ausspielen des vermeintlich rein »statistischen« Prozesses gegen eine existentielle kollektive Wahl – und ein antidemokratisches Begriffsmanöver, das in den 1920er Jahren bereits Carl Schmitt in seinen verfassungsrechtlichen Schriften vorexerziert hatte.
Selbstverständlich hat jeder das Recht, zum Beispiel das US-amerikanische Wahlsystem zu kritisieren (bei dem es ja auch reichlich zu kritisieren gibt). Kritik dieser Art ist eigentlich sogar ein Zeichen von Engagement für die Demokratie. Nicht demokratiekompatibel ist hingegen die Haltung der Populisten, die auf die Behauptung hinausläuft: »Weil wir nicht gewonnen haben, muss das System korrupt und manipuliert sein.« Populisten unterminieren also systematisch das Vertrauen der Bürger in ihre Institutionen und beschädigen damit selbst dann die politische Kultur, wenn sie nie auch nur in die Nähe der tatsächlichen Machthebel gelangen. Dass diese Rhetorik nicht nur dazu dient, die eigenen Anhänger bei der Stange und bei Laune zu halten, sondern dass sie Folgen (bis hin zu gewalttätigen) haben kann, wird man nach dem »Sturm auf das Kapitol« vom Januar dieses Jahres kaum bestreiten.
Gut verlieren?
Abgesehen von mehr oder eben weniger symbolischen Optionen, ein schlechter Verlierer zu sein, gibt es für Amtsinhaber einen weitaus konkreteren Weg, nach verlorenen Wahlen dennoch nicht die Konsequenzen zu tragen. Man denke an die Wahlniederlage von Erdoğans AKP bei den Kommunalwahlen 2019 in Istanbul. Zunächst klagte der Präsident, der Sieg eines Oppositionskandidaten der säkularen sozialdemokratischen Partei sei auf »Unregelmäßigkeiten« oder blanken »Diebstahl an der Wahlurne« zurückzuführen. Am Ende verlor seine Partei eine Wiederholungswahl allerdings mit noch größerem Rückstand. Dieses Ergebnis wurde sogleich als Beweis dafür gefeiert, dass Wahlen selbst in der Türkei nicht beliebig manipuliert werden könnten. Doch was dann geschah, wurde von einer inzwischen wieder optimistischen internationalen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen: Ankara reduzierte systematisch den Zugriff des Istanbuler Bürgermeisters auf Ressourcen und Geldmittel. Der Gewinner hatte das Nachsehen.
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