Heft 897, Februar 2024

Literarische Besteckszenen

Über den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel von Carlos Spoerhase

Über den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel

In seiner großen Studie über den Bildungs-roman schildert Franco Moretti, dass Dinner-Szenen in der Romanliteratur des langen 19. Jahrhunderts eine wichtige Funktion zukam: Das Dinner habe einen sozialen Raum geschaffen, in dem sich alle Personen angstfrei und unter dem Schutz klarer sozialer Regelwerke begegnen konnten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe dann aber eine veritable »Dinnerdämmerung« eingesetzt.1 Das Dinner sei immer häufiger zu einem angstbesetzten und ambigen sozialen Raum geworden, der gerade keine übergreifende Verhaltenssicherheit mehr habe gewährleisten können.

Das von Unsicherheiten begleitete gemeinsame Essen mit Besteck gehört inzwischen zu dem populären Imaginären. In der Besteckszene prägt sich meist ein verbreitetes Verständnis von Klassendifferenzen aus. Das gemeinsame Essen mit Messer und Gabel kann in der Gegenwart schon deshalb keine sozial neutrale Szene eröffnen, weil die grundlegenden Regeln des Besteckgebrauchs nur einem privilegierten Teil der Gesellschaft vertraut sind. Ein paar Beispiele aus jüngeren literarischen und essayistischen Werken, in denen Sozialaufsteiger im Zentrum stehen: Bei Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse, 2020) muss den Kindern erst beigebracht werden, »wie man Pizza mit Messer und Gabel isst«. Bei Daniela Dröscher offenbart sich in Zeige deine Klasse (2018) die bäuerliche Herkunft des Vaters darin, dass »die rechte Hand […] beim Essen mitunter auf dem Schoß« liegt und »nicht wie die linke auf dem Tisch«. Bei Sharon Dodua Otoo lässt sich der soziale Status daran erkennen, dass man nicht in Restaurants »mit mehreren Bestecken und diversen Gläsern« geht.2 Ralph Tharayil berichtet in Herz & Habitus (2023), erst lernen zu müssen, »wie das Besteck zu halten ist«, und auch in seinem Roman Nimm die Alpen weg (2023) stellt sich die Frage, ob man mit nach Hause eingeladenen Gästen mit den Händen oder doch mit Besteck isst. In Deniz Ohdes Streulicht (2020) wird die Protagonistin von ihrem hilflosen Vater instruiert, das Besteck »immer von außen nach innen« zu verwenden, wobei er allerdings nur auf »imaginäre Fischgabeln und Dessertlöffel« zeigen kann.

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