Literarische Besteckszenen
Über den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel von Carlos SpoerhaseÜber den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel
In seiner großen Studie über den Bildungs-roman schildert Franco Moretti, dass Dinner-Szenen in der Romanliteratur des langen 19. Jahrhunderts eine wichtige Funktion zukam: Das Dinner habe einen sozialen Raum geschaffen, in dem sich alle Personen angstfrei und unter dem Schutz klarer sozialer Regelwerke begegnen konnten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe dann aber eine veritable »Dinnerdämmerung« eingesetzt. Das Dinner sei immer häufiger zu einem angstbesetzten und ambigen sozialen Raum geworden, der gerade keine übergreifende Verhaltenssicherheit mehr habe gewährleisten können.
Das von Unsicherheiten begleitete gemeinsame Essen mit Besteck gehört inzwischen zu dem populären Imaginären. In der Besteckszene prägt sich meist ein verbreitetes Verständnis von Klassendifferenzen aus. Das gemeinsame Essen mit Messer und Gabel kann in der Gegenwart schon deshalb keine sozial neutrale Szene eröffnen, weil die grundlegenden Regeln des Besteckgebrauchs nur einem privilegierten Teil der Gesellschaft vertraut sind. Ein paar Beispiele aus jüngeren literarischen und essayistischen Werken, in denen Sozialaufsteiger im Zentrum stehen: Bei Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse, 2020) muss den Kindern erst beigebracht werden, »wie man Pizza mit Messer und Gabel isst«. Bei Daniela Dröscher offenbart sich in Zeige deine Klasse (2018) die bäuerliche Herkunft des Vaters darin, dass »die rechte Hand […] beim Essen mitunter auf dem Schoß« liegt und »nicht wie die linke auf dem Tisch«. Bei Sharon Dodua Otoo lässt sich der soziale Status daran erkennen, dass man nicht in Restaurants »mit mehreren Bestecken und diversen Gläsern« geht. Ralph Tharayil berichtet in Herz & Habitus (2023), erst lernen zu müssen, »wie das Besteck zu halten ist«, und auch in seinem Roman Nimm die Alpen weg (2023) stellt sich die Frage, ob man mit nach Hause eingeladenen Gästen mit den Händen oder doch mit Besteck isst. In Deniz Ohdes Streulicht (2020) wird die Protagonistin von ihrem hilflosen Vater instruiert, das Besteck »immer von außen nach innen« zu verwenden, wobei er allerdings nur auf »imaginäre Fischgabeln und Dessertlöffel« zeigen kann.
Französische Schriftsteller, die über Sozialaufsteiger schreiben und gegenwärtig von deutschsprachigen Literaten intensiv gelesen werden, handhaben es ebenso: In Edouard Louis’ Anleitung ein anderer zu werden (2022) muss der Protagonist erst in einer mehrseitigen bürgerlichen Instruktionsszene von seiner Freundin Elena unterwiesen werden, wie man »die Gabel und das Messer in die Hand« nimmt. Und obwohl er mit bemerkenswerter Geschwindigkeit lernt, ist er doch überwältigt, als sich später auf einer Abendgesellschaft vor ihm »Dutzende von Messern, Gabeln und Löffeln in verschiedenen Größen« bedrohlich aufbauen: »ich hatte keine Ahnung, welche man wofür benutzen musste«.
Selbst die aktuelle Ratgeberliteratur verwendet faktuale und fiktionale Aufstiegsgeschichten als Argumentationsressource und Anschauungsmaterial: In Doris Märtins Hier geht’s hoch wird etwa auf die Bücher von Christian Baron, Daniela Dröscher, Didier Eribon, Annie Ernaux, Anke Stelling und Ulla Hahn sowie auf Ron Howards Netflix-Verfilmung von Hillbilly Elegy verwiesen, die auf den Memoiren von J. D. Vance beruht.
Weshalb wird der gelungene Aufstieg in eine höhere soziale »Klasse« in diesen Werken immer wieder daran festgemacht, »ob man weiß, wie man sich im Restaurant benimmt«, mithin ob man weiß, »welches Besteck man benutzt, wenn man zu einem Dinner mit mehreren Gängen eingeladen« wird?
»Bildungswundergeschichte«
Besonders bemerkenswerte Besteckszenen finden sich in der kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen autofiktionalen Romanreihe der letzten Dekaden. Ulla Hahns Geschichte der Hilla Palm, die mittlerweile in vier umfangreichen Bänden vorliegt. Der erste Band der 2400 Seiten umfassenden Tetralogie erschien 2001 unter dem Titel Das verborgene Wort und verkaufte sich mehr als eine halbe Million Mal. Es folgten Aufbruch (2009), Spiel der Zeit (2014) und Wir werden erwartet (2017) sowie eine Verfilmung der ersten beiden Bände durch Hermine Huntgeburth.
Die Geschichte der Hilla Palm, die der Lebensgeschichte der Autorin nachempfunden ist, ist eine westdeutsche »Aufstiegsgeschichte« und »Bildungswundergeschichte«. Hilla Palm, die im Laufe der Erzählung ihren Namen Hildegard durch Hilla austauscht, ist wie Ulla Hahn eine katholische Arbeitertochter vom Lande. Hilla wächst im katholischen Rheinland in einem kleinen Dorf als Tochter eines ungelernten Arbeiters auf und besucht gegen den Widerstand ihrer Familie, aber mit Unterstützung der örtlichen Lehrer und des lokalen Pfarrers das Gymnasium. Aufgrund ihres frühen schulischen Erfolgs und einer bemerkenswerten Assimilationsfähigkeit an bürgerliche Sprachnormen und Verhaltensstandards gelingt ihr eine steile Bildungskarriere, die sie bis an die Hochschule führt. In Wir werden erwartet, dem letzten Band der Tetralogie, resümiert die Protagonistin diesen steilen Aufstieg: »Ich kannte die Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Hatte Anpassung gelernt. Hochdeutsch statt Platt, Essen mit Messer und Gabel. Manieren. Aufsteigerin.«
In allen vier Bänden kommen Besteckszenen an entscheidenden Wendepunkten vor. Bereits der erste Band Das verborgene Wort nutzt die Besteckszene, um die kulturelle Differenz zwischen der Herkunft in der Arbeiterschicht und dem Aspirationsraum des Bürgertums zu exponieren. Hilla muss bei einem Kindergeburtstag in einem bürgerlichen Haus überrascht feststellen, dass alle Kinder außer ihr »mit Messer und Gabel« essen. Als sie »wie die anderen Messer und Gabel« ergreift, wird sofort offenbar, dass sie nicht weiß, »was in welche Hand« gehört. Die Szene führt vor Augen, dass Hilla nicht nur nicht weiß, welche Speisen man in bürgerlichen Milieus mit Besteck isst, sondern dass ihr der Umgang mit Messer und Gabel überhaupt fremd ist. Übungserfolge stellen sich aber rasch ein. Hilla praktiziert die neuerworbenen Fähigkeiten auch am elterlichen Esstisch.
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