Literaturkolumne
H. P. Lovecraft: Seine Welten und ihre Fans von Eva GeulenH. P. Lovecraft: Seine Welten und ihre Fans
Aus einer fiktionalen Geschichte kann ein quasi bewohnbares Universum eigenen Rechts werden, wenn die eine über sich hinaus in andere Geschichten drängt, insbesondere solche aus anderen Zeiten und mit anderen Wirklichkeiten. Aus Geschichten werden dann Schichten, die alle irgendwie zusammenhängen, sich aber in keinem einzelnen Erzählstrang erschöpfen. Fiktion ist paradoxerweise dann besonders fesselnd und glaubhaft, wenn eine Welt unter dem Druck einer anderen, die genauso fiktional ist, ihre festen Konturen verliert und durchlässig wird.
Die jüngeren Serien seit Twin Peaks haben dieses erzählerische Wucher- und Verschachtelungsprinzip perfektioniert und werden deshalb gerne für ihre narrative Komplexität gelobt, jüngst etwa Dark, die deutsche Variante von Stranger Things. Der Erzähltypus ist sehr viel älter. In seiner Unabschließbarkeit erinnert er an die Struktur von Mythen. Heute spricht man aber lieber und vielleicht etwas zu rasch von Metafiktionalität und selbstreflexivem Erzählen. Dieses Etikett wird dem paradoxen Zusammenschluss verschiedener Welten zu einem potentiell unendlichen, aber in sich stabilen Kosmos jedoch nur einseitig gerecht. Es rechnet die unheimlichen Effekte der Durchlässigkeit heraus und prämiert stattdessen den (vermeintlichen) Durchblick der Rezipienten.
Kafkas Welt kann man sowohl unheimlich wie selbstreflexiv nennen, aber durchlässig ist sie nicht einmal im Jäger Gracchus, der als Untoter durch die Zeiten fährt. Anders dagegen Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838), dessen Erzähler sich auf den Spuren eines (fiktiven) Reiseberichts an den Rand der Welt begibt und dort in eine andere gerät. Das Motiv vom Buch im Buch ist vielleicht der bekannteste Kniff, durchlässige Welten zu erschaffen. Es findet sich in der Kinder- und Jugendliteratur (Michael Endes Unendliche Geschichte von 1979), aber auch im historischen Roman, etwa Umberto Ecos Krimi um den verschollenen Komödienteil der Poetik des Aristoteles in Der Name der Rose (1980). Dan Browns Da Vinci Code (2003) hat sich seiner erfolgreich bedient, und bei Stephen Greenblatt organisiert das verbotene Buch seine preisgekrönte Geschichte der Lukrez-Rezeption in The Swerve (2011).
Gewissermaßen zu Hause ist dieser Erzähltypus in den Genres der Fantastik, des Horrors und der Science-Fiction. Dabei ist der manifeste Exotismus dieser Welten, Geister aus dem Jenseits oder monströse Wesen aus dem All, eher Beigabe. Der Reiz besteht vor allem in der erzählend hergestellten Durchlässigkeit und der entsprechenden Erfahrung von Grenzverschiebungen mit Lizenz zum Weiterspinnen. An den düsteren Serienwelten wird ja in anderen Gattungen und Medien, in Internetforen, Fanzines und Computerspielwelten, eifrig fortgeschrieben. Die Frage nach dem Unterschied zwischen Fakt und Fiktion stellt sich bald nicht mehr.
In unserem postfaktischen Zeitalter der fake news, anhaltender Diskussionen darüber, wer wessen Geschichte erzählen oder »approprieren« darf, da man über die Erfindung fremder Welten zu Gericht sitzt und allen Ernstes erwägt, der Reportage das Erzählen zu verbieten, weil große Teile der Journalistenzunft einem Schlechtschreiber auf den Leim gegangen sind, ist es an der Zeit, sozusagen kontrapunktisch (meinetwegen auch kontrafaktisch) den besonders krassen Fall eines alles andere als politisch korrekten Erfinders höchst bizarrer Welten in Erinnerung zu rufen.
Lovecraft und das »Necronomicon«
Im Mittelpunkt dessen, was ein »Werk« zu nennen man zögert, steht auch bei H. P. Lovecraft ein verbotenes Buch. Was genau diese Aufzeichnungen eines Arabers namens Abdul Alhazred aus dem Jahre 731 enthalten, bleibt ungewiss. Vom »Necronomicon« haben sich nur wenige Exemplare erhalten, und wenn einer, der es einsehen konnte, überlebt hat, kann er auch nur Fragmentarisches überliefern, vor allem unaussprechliche Namen und Wörter wie »Umr At-Tawil« oder »Yog-Sothoth«.
Was zunächst nur durch Lovecrafts in amerikanischen Groschenheften der zwanziger und dreißiger Jahre veröffentlichte Erzählungen geisterte, hat längst ein stattliches Eigenleben im Netz entwickelt. Manches davon wird man okkult nennen müssen, aber die Reihe der vom »Necronomicon« Faszinierten reicht hoch auf der literarischen Rangleiter. Von Eco weiß man, dass er Lovecraft-Leser war. Tennessee Williams, Joyce Carol Oates sind zu nennen, im hiesigen Sprachraum Arno Schmidt und Georg Klein, auch der weniger bekannte Andreas Gößling, nicht zu reden von Stephen King, David Lynch, Lars von Trier sowieso und zahllosen Serien, einschließlich Stranger Things und Dark.
Das »Necronomicon« ist nicht nur eine besonders düstere Variante des Motivs vom gefährlichen Buch, sondern auch eine sehr effiziente. Dass Lovecraft mit konkreten Informationen geizte, macht die Sache nur noch geheimnisvoller. Aber der hochgebildete Autor verfügte über erstaunliche Kenntnisse, die es ihm erlaubten, die Idee mit historischem und wissenschaftlichem Material so zu unterfüttern, dass man in zweiflerisches Grübeln geraten muss. Um 1927 hat er eine bestechend wissenschaftlich anmutende Geschichte des Nekronomikon verfasst, an die er im Zweifel selbst geglaubt hat, die aber erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Beides, das Buch und dessen Geschichte, sind der Fantasie ihres Autors entsprungen und seither nicht mehr eingefangen worden. Es gibt nicht nur einen auf Lovecraft spezialisierten Necronomicon-Verlag, sondern auch eine weitverzweigte Forschung, die sich auf den Spuren der Lovecraft’schen Erzähler bewegt. Innerhalb und außerhalb der Texte handelt es sich dabei in der Regel um Universitätsprofessoren. Vermeintlich gefeit gegen die Verlockungen von pulp fiction und Monsterglauben gleichermaßen, finden sie sich rasch tief verstrickt in beides.
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