Literaturkolumne
Poetry on Demand: Literatur und Dienstleistung von Eva GeulenPoetry on Demand: Literatur und Dienstleistung
Keller-Geheimnisse
Ein Profi aus der Welt der Podcasts (junge Neffen der Tante Kolumne) empfahl jüngst, sich entweder früh in aktuelle Debatten zu stürzen oder sich bedeckt zu halten, bis man im Rückblick kluge Dinge gelassen von sich geben könne. Für Handkes Nobelpreis ist es damit definitiv zu früh und längst nicht klar, ob die Zeit kluger oder gelassener Rückblicke in diesem Fall je kommen wird, soll oder kann. Aber zu Gottfried Kellers jüngst verstrichenem zweihundertstem Geburtstag lässt sich gefahrlos nachlegen. Die deutschen Realisten des 19. Jahrhunderts sind derzeit eh im Aufwind: Stifter geht schon lange immer, Fontane-Festspiele waren soeben, Grillparzer-Anfragen mehren sich, Raabe wurde jüngst auch neu gewürdigt,1 und Storm erfreut sich zwar ebenfalls andauernder Beliebtheit, gehört aber nicht in dieselbe Liga.
Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Mittelstufe, die Storm begeistert aufnehmen, stehen Keller-Texten wie Romeo und Julia auf dem Dorfe oder Kleider machen Leute meistens ratlos und befremdet gegenüber. Wenn sie deren vermeintliche Zugänglichkeit als Zumutung empfinden, ahnen sie etwas von ihrem Voraussetzungsreichtum. Die professionelle Keller-Forschung verfügt zwar über dienstbare Leitfossilien wie die »Dialektik von Sein und Schein«, aber auch die beste Sekundärliteratur löst das Rätsel dieser Prosa nicht.
Nur unvollkommen ist es mit literarischer Vollkommenheit bezeichnet, wenn man darunter, wie immer noch üblich, etwas der Zeit Enthobenes versteht. Denn Kellers Geheimnis ist die Einheit, die die zeitlos anmutende Klassizität des Ganzen als ein, mit Mörike zu reden, »Kunstgebild der echten Art« mit der exakten Registrierung und kritischen Reflexion der bürgerlich-prosaischen Erwerbswelt seiner Zeit bildet. Seit langem ist es Usus, an dieser Sollbruchstelle zwischen lupenreiner Kunstklassizität älteren Typs und den Wirrnissen der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts den epischen Humor, in den Mitschriften zu Hegels Vorlesungen über die Ästhetik in Absetzung zur subjektiven romantischen Ironie auch »objektiver« getauft, vermittelnd einzuschalten.
Alternativ betonte Walter Benjamin in seinem Essay über Keller (1927) die eigentümliche Vergegenwärtigung dem Traditionszusammenhang längst entrissener und obsolet gewordener Vergangenheiten. Er behauptete: »Sein Werk ist die Mole der bürgerlichen Geistesbewegung, von der sie noch einmal zurückflutet und die Schätze ihrer und aller Vergangenheit hinterläßt, bevor sie als idealistische Sturmflut Europa zu verwüsten sich anschickt. Man muß sich nämlich durchaus klar machen, […] wie eigentlich ein Nichts der sprachlichen Formung, ein eigensinniges, ihm selber dunkles Spinnen seine Novellen neben die verkommenen eines Auerbach oder Heyse als rätselhaft vollendete stellt.«
Die »Schätze der Vergangenheit« sind allerorten spürbar. Die große Shakespeare-Tragödie wird verkleinert auf dem Land nachgespielt. Der exotische Reisebericht in Pankraz, der Schmoller hält, was das Genre verspricht, auch wenn keine der anwesenden Figuren mehr zuhört. Altertümliche Formen wie Märchen, Epigramm, Legende, Anekdote, Sinnspruch, Sprichwort und Wahlspruch, aber auch Romanze, Kalendergeschichte und Chronik spielen nebeneinander und durcheinander. Das »eigensinnige Spinnen« zielt auf die groteske Verselbständigung von Details: die durch einen Anstrich während ihrer Winterstarre blau eingefärbte Wanze, die sich im Frühling wie »ein blaues Wunder« in Bewegung setzt, oder die Beschreibung einer esslustigen Frau mit mächtigem Unterkiefer, »auf welchem ein ganz kleines Häuschen ruhte mit einer engen Kuppel und einem winzigen Erkerlein, nämlich der Nase, welche sich vor der vorherrschenden Kinnmasse wie zerschmettert zurückzog«.
Besonders die Inszenierung veralteter Stile und Formen, Vorlagen und Gattungen legt die ihrerseits altehrwürdige Gattung der Literatursatire als übergeordnete Kategorie der Einheit von, verkürzt formuliert, Poesie und Prosa, Kunst und Wirklichkeit, nahe. Denn einerseits definiert man Literatursatire als eine Literatur zweiter Ordnung über ihre entstellenden Travestien bereits vorhandener Literatur, andererseits zeichnet sie sich spätestens seit der Romantik und auch in ihren politisierten Spielarten im Vormärz durch das Anliegen einer Selbstverteidigung der Kunst als Kunst aus. Wer wie Keller nach dem »Ende der Kunstperiode« »kunstscheu« (Adorno) geworden ist und gleichwohl Kunst im alten Sinne machen will, ist mit Literatursatire gut bedient. Heine hat der Literatur in dieser Perspektive bekanntlich ganz neue Dimensionen erschlossen.2
Jüngster Beleg des Potentials der Literatursatire könnte der inzwischen zu einer (Unter)Gattung geadelte Literaturbetriebsroman unserer Gegenwart sein.3 Er beweist noch einmal, dass Literatur nicht bloß immer auch aus vorgängiger Literatur gemacht ist, sondern gerade die ostentativ sekundäre satirische Bearbeitung keine Verfallsform ist, sondern neue Formen zeitigen kann. Und der Literaturbetriebsroman potenziert das, denn auch und gerade der Betrieb, also jenes Drum und Dran der Preise, der Lesungen, der Verleger, Lektoren, Rezensenten und Honorare, das beim Soziologen Bourdieu das literarische Feld heißt und in Gestalt der Netzwerkforschung gegenwärtig viel Aufmerksamkeit erhält, ist nicht sekundäres Derivat, sondern das komplexe Gefüge, in dem und durch das literarische »Werke« entstehen und zirkulieren.
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