Lunare Planspiele
Über die Rückkehr zum Mond von Bernhard J. DotzlerÜber die Rückkehr zum Mond
Mondvölker, Herden von Mondtieren, Städte, Seen, Meere?
Nichts von all dem fand sich, nichts,
was die Wissenschaft nicht bereits kannte …
Jules Verne, Von der Erde zum Mond
Die längste Zeit gab es den Aufenthalt auf dem Mond und anderen Himmelskörpern nur als Gedankenspiel: von Lukians Wahrer Geschichte aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung über Johannes Keplers Somnium und Cyrano de Bergeracs États et Empires de la Lune aus dem 17. Jahrhundert bis zu Hergés Tintin-Abenteuer On a marché sur la Lune (1954) und Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium (1960); von Georges Méliès’ Voyage dans la Lune (1902) über Fritz Langs Frau im Mond (1929) bis noch zu Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968).
Dann kamen die Apollo-Missionen, die die ersten zwölf Menschen auf den Mond brachten und das Jahr 2000 endgültig zur Chiffre aller technophilen Zukunftsträume machten. Nicht nur hatte die Pan Am (Pan American World Airways) ihrem Space Clipper zuvor einen Kurzauftritt in Kubricks Film verschafft; die Fluggesellschaft führte auch schon Passagierlisten für Linienflüge zum Mond. Ab 2000, glaubte man damals, würde es so weit sein. Pan Am ging aber knapp ein Jahrzehnt zuvor schon pleite, und bereits seit dem 14. Dezember 1972, nachdem Eugene Cernan als letzter Astronaut den Mond verlassen hatte, ist alles wieder beim Alten: Mondspaziergänge gab und gibt es seitdem nur in der Fantasie.
Postapollinische Umtriebigkeit
Seither ist in der Raumfahrt viel geschehen. Nahtlos an das Apollo-Programm anschließend beförderten die USA das Skylab mit der letzten ihrer Saturn-V-Raketen in eine Umlaufbahn um die Erde. Vergleichbares gelang der UdSSR mit ihren Saljut-Raumstationen und der Mir. Seit gut einem Vierteljahrhundert kreist die Internationale Raumstation (ISS) um die Erde und beherbergte über siebzig Langzeitbesatzungen, seit vier Jahren zieht die Tiangong alias China Space Station (CSS) ihre Bahnen im erdnahen Orbit. Hinzu kommen die drei Jahrzehnte des Space Shuttle (1981–2011), dessen Design der Raumfahrt ein wenig von jenem James-Bond-Futurismus verlieh, wie ihn dann erst Elon Musks Anfang 2018 in den Weltraum geschickter Roadster mit dem Starman darin und wenig später Richard Bransons VSS Unity wieder in Szene setzten.
Überhaupt sind da nun auch mächtige privatwirtschaftliche Unternehmen wie Blue Origin, SpaxeX und Virgin Galactic sowie neue nationalstaatliche Umtriebigkeiten im Spiel. Japan hatte lange einen Versorgungstransporter für die ISS in Betrieb und entwickelt derzeit dessen Nachfolger (HTV und HTV-X). Indien verfolgt sein Chandrayaan-Programm. Israel hat Beresheet 2 nur verschoben, nicht für immer abgesagt. Und gerade im vergangenen Juni erst haben drei deutsche Landesherren (Baden-Württemberg, Bayern und Bremen) ihre space mindedness mit der Forderung kundgetan, Deutschland möge »in Sachen Raumfahrt auf dem Fahrersitz Platz [nehmen]«.1
Nur eben, kein Fahrer- und kein Pilotensitz hat in den letzten Jahrzehnten einen Menschen auf den Mond gebracht – und gerade das soll sich in naher Zukunft ändern. Bald schon soll für »Armstrongs Erben«, ob sie sich Astronautinnen nennen oder Kosmonauten (wie in Russland, das aber mondlandetechnisch weit ins Hintertreffen geraten ist) oder Taikonauten (wie bei den Fans der chinesischen Raumfahrerinnen und Raumfahrer), die Stunde gekommen sein.2 China hat bereits demonstrativ seine Flagge auf dem Mond gehisst und will bis 2030 auch zwei seiner Bürger dort hinbringen, zwar nur für einen kurzen Aufenthalt (wie einst der von Neil Armstrong und Buzz Aldrin), aber doch schon als Vorgriff auf die für das kommende Jahrzehnt geplante Errichtung einer dauerhaften Mondstation.
Höchste Zeit also für die USA, deren sechs auf der Mondoberfläche hinterlassene Fahnen längst ausgeblichen sein dürften (man hatte nur »irdische Standardmodelle zum Stückpreis von 5,50 Dollar aus einem Regierungskatalog« mitgenommen), sich als die führende Weltmacht im Weltraum zu behaupten, wie sie das mit dem Artemis-Programm seit 2017 auch versucht – wenn auch aktuell mit der für die von Amerika geprägten Zeitläufte typischen Unberechenbarkeit und Erratik. 7. Juni 2025: »US-Präsident Donald Trump und der Unternehmer Elon Musk liefern sich eine heftige Auseinandersetzung«.3 Programmschritte sollen jedenfalls sein: möglichst noch vor den Chinesen eine Mondlandung, die »erstmals auch eine Frau und eine Person of Color zur Oberfläche bringen« soll; eine »Bushaltestelle im Mondorbit«, das Lunar Gateway, »für die Forschung, aber auch als logistisch praktischer Zwischenstopp für die Arbeit auf der Mondoberfläche und mögliche spätere Marsmissionen«; und selbstredend ebenfalls ein Habitat für »eine permanente menschliche Präsenz auf dem Mond«.
Wir kommen, um zu bleiben
Gerade die rechte Zeit also auch, um noch einmal, bevor die Realität sie einholt, die Fantasie zu bemühen, wie etwa die Netflix-Serie Space Force (2020/2022) es vormacht und wie nun die Bestandsaufnahme des Raumfahrtjournalisten Christoph Seidler es anbietet: »In den späteren Kapiteln dieses Buches werden wir uns selbst auf eine – gedankliche – Reise zum Mond begeben.«
Nun lassen sich eine workplace dramedy-Serie und ein Sachbuch schwerlich miteinander vergleichen. Aber bemerkenswert ist doch, wie in beiden Fällen die eher ernüchternden Aspekte der geplanten Rückkehr zum Mond das Bild bestimmen. Bemerkenswert an der Serie ist also gleichsam der Realismus noch im überzeichnenden Klamauk; und an dem Buch: dass es zwar mit John F. Kennedys berühmter »We choose to go to the moon«-Rede anhebt, selbst aber so gar nicht visionär erzählt.
»Wir haben gelobt, dass wir den Weltraum nicht mit Massenvernichtungswaffen, sondern mit Instrumenten des Wissens und der Erkenntnis gefüllt sehen wollen«, erklärte Kennedy in seiner Rede. Spätestens seit der Verlagerung der Astronautik vom Apollo-Programm auf das Space Shuttle ist aber doch auch eine massive Militarisierung des (erdnahen) Weltalls unleugbar – und kaum überraschend, selbst wenn man die Entstehungsgeschichte der Saturn-Raketen verdrängt und vom Dyna-Soar-Projekt der US Air Force noch nie gehört hat. 1981 war die erste Shuttle-Mission gestartet, 1982 folgte die Gründung eines eigenen Weltraumkommandos der Luftwaffe (Air Force Space Command, AFSPC) und 1983 Ronald Reagans famose Star Wars-Initiative alias SDI (Strategic Defense Initiative). 2019 ging aus dem AFSPC die USSF als sechste Teilstreitkraft der US-Armee hervor: die United States Space Force.
Damit beginnt die Serie (während Seidler das alles nicht erwähnt), und gleich wird auch das Ziel klargestellt: »Boots on the moon«! Die USA wollen auf den Mond zurück, aber »nicht für ein paar Steine, sondern um ihn zu besetzen«. Also gilt es, sich schon einmal eine memorable line für dieses Ereignis zu überlegen, was zugleich misslingt und zugleich besser gelingt als gedacht. »It’s good to be back on the moon« war vorformuliert, aber die Person-of-Color-Astronautin verspricht sich und sagt: »It’s good to be black on the moon.«
Doch immerhin, die Space Force hat ihren Auftrag erfüllt – bis auf eine Kleinigkeit, nämlich die, dass China nun doch schneller war und bereits eine Mondstation errichtet hat, rein zu Wissenschaftszwecken, versteht sich. Diese genügen jedoch, um eine »Ausschlusszone« abzustecken, und so geht die Handlung ihren absehbaren Gang, Scharmützel um die Nationalflagge inbegriffen.4
Tatsächlich gibt es auch in der wirklichen Monderforschung, angesichts der außerordentlichen Erfolge Chinas mit seinen Mondsonden Chang’e-1 (2007) bis Chang’e-6 (2024), die Warnung der wirklichen Space Force, die Volksrepublik könnte »bis 2045 die militärisch dominierende Macht im Weltraum werden« und »womöglich bereits in den kommenden drei bis fünf Jahren ›Ausschlusszonen‹ um sein wissenschaftliches Equipment auf der Mondoberfläche definieren«: »offiziell, um etwa bei wissenschaftlichen Experimenten nicht gestört zu werden – und inoffiziell, um den Zugang zu den eigenen Anlagen auf dem Mond zu kontrollieren«.
Tatsächlich ist bei den NASA- und ESA-Vorhaben zwar nicht die Rede von einer Besetzung des Mondes, aber ihre Zukunftsmusik klingt am Ende trotzdem wie eine Drohung: »Aus dem Mondgestein werden wir Sauerstoff herstellen und den Staub mit Lasern zu Baumaterial formen können, aus dem dann Teile unserer Mondbehausungen, Straßen oder Landeplätze entstehen. All diese Dinge müssen und werden wir ausprobieren. Denn dieses Mal werden wir kommen, um zu bleiben.«
Und tatsächlich überlegen die Kandidaten und Kandidatinnen in spe bereits: »Für die drei bisher existierenden europäischen Artemis-Tickets stehen gegenwärtig sechs aktive ESA-Astronauten mit ISS-Erfahrung zur Verfügung. Zu dieser hoffnungsvollen Gruppe gehöre auch ich und gestehe, auch schon darüber nachgedacht zu haben, welche bedeutungsschweren Worte ich beim Schritt auf den Mond wohl sagen würde.«5
Insoweit lässt sich behaupten, dass alles an und in Space Force, wiewohl es nur ausgedacht ist, doch »stimmt«. Die Serie nimmt das, wovon sie handelt, ordentlich auf die Schippe, und dennoch besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der Parodie und den weltweiten Ambitionen – außer dem, dass die Parodie insinuiert, dass »das alles« zum Lachen sei.
Der große historische Schritt
Umgekehrt Seidler. Sein Bericht über den »neue[n] Kampf der Supermächte um den Mond« ist von nachgerade biederem Ernst. Da findet sich schon der eine oder andere Funfact wie: »Der Mond entfernt sich jedes Jahr etwa 3,78 Zentimeter von der Erde weg. Das entspricht ziemlich genau der Geschwindigkeit, mit der menschliche Fingernägel wachsen.« Aber Seidler nervt nicht mit Slapstick über astronautische versus taikonautische Kombattanten, sondern liefert seriöse Auskunft über das Weltraumrecht, um das es freilich schlecht bestellt ist. Es gibt den Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper, kurz: den Weltraumvertrag von 1967. Aber vieles – zu viel – bleibt darin ungeregelt, nicht zuletzt der Abbau von Rohstoffen. Wird also, wie bereits die Rede geht, auf dem Mond alsbald der neue »wilde, wilde Westen« herrschen? Sicher scheint: »Fehlende Begriffsdefinitionen im Weltraumvertrag dürften dafür sorgen, dass die Rückkehr der Menschheit zum Mond in den kommenden Jahren zu einem potenziell konfliktträchtigen Thema wird.«
Deshalb ja – boots on the moon! – die Eile der USA, wiederum als Erste vor Ort zu sein, und die anderer Großmächte, den Vereinigten Staaten womöglich zuvorzukommen. Und ihnen allen eilt Seidlers Gedankenreise voraus. »Stellen wir uns also vor«, wir würden »eine Mission zum Mond organisieren – und würden dann auch selbst mitfliegen«, beginnt das Kapitel »Wie man zum Mond kommt«. Ein Kapitel später (»Was man für das Leben auf dem Mond braucht«) sind alle Reisevorbereitungen getroffen: »Machen Sie sich bereit, es wird die Reise unseres Lebens!« Wieder ein Buchkapitel später ist es dann auch schon so weit: »Die Mondoberfläche kommt näher und näher […] Wir werden in Kürze landen. Haben Sie sich Ihre historischen Worte schon überlegt?«
Wie der Space Force-Pilotin, wie den wirklichen Astronautinnen und Astronauten mit der Aussicht auf eine Mondlandung ist auch für Seidler klar, dass »wir« schon während der Flugvorbereitungen »etwas Wichtiges nicht vergessen« sollten: »Wir müssen uns überlegen, welches eigentlich unsere ersten Worte auf dem Mond sein werden. Der Schritt, der vor uns liegt, ist noch immer historisch. Noch nicht viele Menschen haben ihn getan.«
Im Grunde steht der »historische Schritt«, der nach Armstrong »große Schritt für die Menschheit«, ja sogar jetzt erst eigentlich an. »Beim ersten Wettlauf der Menschheit zum Mond ging es um den Einmal-Effekt. Wer als Erster den Mast seiner Flagge in den Mondstaub rammte, hatte gewonnen.« Die derzeitigen Artemis-Vorbereitungen wie auch die Planungen Chinas haben dagegen eine Dauerpräsenz auf dem Mond zum Ziel. Es soll eine Unterkunft geben, »kein Luxusdomizil«, aber »eine funktionelle Einrichtung« für längere Aufenthalte und »eine Art lunares Wohnmobil«, mit dem man weiter von der Station entfernte Gebiete erreichen kann, ohne einen Raumanzug tragen zu müssen. Das Eis, das sich aus permanent im Schatten liegenden Mondkratern abbauen lässt, soll zur Gewinnung von Wasser und Atemluft verwendet werden. Es soll »Pflanzenzucht im Mondstaub« betrieben werden.
Mit einem Wort: Alle Planungen sehen danach aus, dass es nun ernst wird mit der Besiedelung des extraterrestrischen Raums, und wer hätte auch noch nicht von den Größenfantasien gehört, die für die Raumfahrt zu begeistern versuchen, seit ihr privatwirtschaftlicher Sektor größer und größer geworden ist. Elon Musk (SpaceX) verspricht, »die Menschheit zu einer ›multiplanetaren‹ Spezies [zu] machen«, beginnend mit dem Mars, »wohin er eine Million Menschen umsiedeln möchte«. Jeff Bezos (Blue Origin) erweist sich als offenbar von Christopher Nolans Interstellar (2014) inspiriert und träumt von O’Neill-Zylindern, einer »Vielzahl riesiger freischwebender Habitate im All« alias space colony canisters,6 in denen ebenfalls »eines Tages jeweils mehrere Millionen Menschen leben könnten«. Bei Nolan ist die Weltraumkolonie »eine perfekte Nachahmung eines idealisierten Stücks mittlerer Westen der USA: Alles ist grün, es gibt ein Baseballfeld, fruchtbares Ackerland und gepflegte Farmhäuser. Verfremdet ist die Landschaft einzig dadurch, dass sie sich in einem Zylinder befindet und sich wie nach oben gefaltet über die Köpfe der Menschen spannt.«7
Topoi der Raumfahrt
Da liest es sich wie eine Wohltat für den gesunden Menschenverstand, wenn Seidler abwiegelt: »Die Menschheit wird auf dem Mond bleiben und wahrscheinlich auch weiter hinaus ins All fliegen.« Aber »nur ein winziger Bruchteil eines Bruchteils der aktuell 8,1 Milliarden Menschen« wird »die Chance für einen Flug ins All haben«. Denn natürlich, die Menschen, diese vielen, und die Menschheit, das ist nicht dasselbe. Nur auf letztere – oder größere Kollektive derselben – verweist dieses so gern benutzte, prekäre »Wir«, wenn es heißt, »dass wir endlich zum Mond zurückkehren müssen!« Oder in: »Wir Europäerinnen und Europäer werden die zukünftigen Flüge zum Mond nicht mehr auf dem Sofa verfolgen, wie einst die Apollo-Missionen – sondern im Druckanzug auf dem Sitz des Raumschiffes.«
Dabei soll es – genauso wie damals, zu Zeiten von Apollo, und mit dem gleichen »Wir« – immer noch um nicht weniger zu tun sein als um »unseren Platz im Kosmos«, »unseren Platz in diesem riesigen Universum«. Wird »die Eroberung des Weltraums des Menschen Statur vergrößern oder verkleinern?«,8 fragten sich seinerzeit Denkerinnen und Denker aller Couleur. Heute, so jedenfalls sieht es nach Seidler aus, stellt sich dieselbe Frage immer noch oder wieder neu – nur wird sie zugleich gar nicht mehr so recht gestellt oder durchdacht. Anders gesagt, gerade in dieser Frage fällt auf, wie uninspiriert Seidler von der »Rückkehr zu unserem kosmischen Nachbarn« berichtet. Sie wird als »kompliziert« bezeichnet und als »bedeutungsvoll für die Zukunft der Raumfahrt, aber auch für die politischen Verhältnisse hier auf der Erde«.
Von der Kühnheit eines Aufbruchs in unendliche Weiten ist jedoch kaum etwas zu merken, wenn der Reisebericht resümiert: »Wir hatten uns also in einer kleinen Blechbüchse an der Spitze einer gigantischen Rakete festgeschnallt, um unserem Heimatplaneten den Rücken zu kehren. Das Warten war nervenzehrend. Dann der Countdown und der Start, dessen archaische Gewalt sich nicht angemessen beschreiben lässt […] Dann erlebten wir erstmals die Faszination der Schwerelosigkeit […] Wir schauten hinaus und bewunderten die Schönheit der Erde, ihre Zerbrechlichkeit […] Am Anfang schickte unser Gleichgewichtssinn beständig Alarmmeldungen. Aber nach und nach gewöhnten wir uns ans Schweben. Und irgendwann wurde es verblüffend normal.«
Wie oft hat man das nicht schon gelesen: »die Schönheit der Erde, ihre Zerbrechlichkeit«, wenn man sie aus der Distanz, von Draußen im All, erblickt. Seit bald vierzig Jahren spricht man vom »overview effect«, noch einmal zwanzig Jahre älter aber ist eben der Mother-Earth-Topos als astronautischer Topos. Earthrise (1968, Apollo 8) und Blue Marble (1972, Apollo 17), diese beiden berühmten Fotos haben ihn maßgeblich mitverfestigt, und Seidler vergisst auch sie nicht zu erwähnen, ganz wie er weiß, dass auch die Monderober /innen der nahen Zukunft »froh sein« werden, am Ende wieder »die Erde unter ihren Füßen zu spüren. Unsere Heimat.« Elon Musk sollte sich das gesagt sein lassen. »Ich vermisse dich, Erde«,9 schluchzt in Space Force ausgerechnet der erste auf eine Marsmission geschickte Mann.
All dies ist symptomatisch für diesen Report über die erzielten und die zu erwartenden Errungenschaften der Raumfahrt. Und die Beispiele lassen sich mehren. Penibel führt Seidler Protokoll über das Mondgestein, das bisher auf die Erde verfrachtet wurde, von den 21,6 Kilogramm, die Armstrong und Aldrin mitbrachten, über die 300 Gramm der sowjetischen Luna-Sonden bis zur chinesischen Chang’e-6, die erstmals Material von der sogenannten dunklen Seite des Mondes auf die Erde holte. Dies, wird zu betonen nicht vergessen, dient der Wissenschaft, und zwar das Steinesammeln (»Was kann man aus dem Mondgestein über die Verhältnisse auf der jüngeren Sonne und in ihrer Nachbarschaft lernen? Planetenforscher sagen, dass man auf dem Mond viel weiter in die Geschichte des Sonnensystems zurückblicken könne als auf der Erde«) nicht anders, als überhaupt dort oben zu sein, geht es doch »auch darum, dass der Mond exzellente Möglichkeiten bietet, den Rest des Universums möglichst ungestört zu untersuchen«.
Kurzum, in allem, wovon – und wie – Seidler berichtet, klingt eine eigenartige Pflichtschuldigkeit und Beflissenheit an. Bloß die memorable line (»etwas Wichtiges«) nicht versäumen! Bloß nicht übersehen, dass es auch jüngste Overview-Fotos gibt: »An der Kapsel angebrachte Kameras machten während der Artemis-1-Mission faszinierende HD-Bilder vom Mond und seiner Umgebung. Darunter waren auch Aufnahmen, in denen die Erde über der kraterzerfurchten Oberfläche aufgeht. ›In dieser Ansicht sehen wir acht Milliarden Menschenleben, die alle auf unserem blassblauen Punkt, unserer blauen Murmel, unserem ganz eigenen Raumschiff Erde leben. Und nach einer langen Reise kommt Orion nun nach Hause‹, kommentierte NASA-Mitarbeiterin Sandra Jones im Livestream.«
So nimmt Seidlers Ausflug zum Mond uns zwar mit auf eine Gedankenreise, ein kühnes Gedankenexperiment jedoch ist er nicht gerade. Eher stellt er unter Beweis, dass Planspiele an die Stelle von Fantasieanstrengungen getreten sind, zumindest in Sachen Mondabenteuer. Man war ja schon dort und man wird erneut hinfliegen, weiß aber längst, was einen dort erwartet, weiß, wie es gewesen ist, und kann also im Voraus wissen, wie es erneut gewesen sein wird: ein Aufenthalt in der »magnificent desolation«, wie Buzz Aldrin es nannte.
NASA Image ID-Nummer AS11-44-6642
Zum Glück gibt es sie trotzdem noch, die Gedankenspiele, die diese Bezeichnung verdienen. Eines davon ist Orbital (2023) von Samantha Harvey.10 Der Roman spielt auf der ISS, dort aber in der Zukunft der Artemis-3-Mission, in der »sich eine vierköpfige Crew auf dem Weg zum Mond« befindet und »soeben die flache Umlaufhöhe der Raumstation von vierhundert Kilometern über dem Planeten überschritten« hat. »Der Mond, der Mond – wir fliegen zum Mond, verdammte Scheiße aber auch, wir fliegen zum Mond«, spukt es euphorisch durch deren Köpfe. Nicht so durch die der Langzeitbesatzung der ISS, der vielmehr schlagartig aufgeht, dass sie zwar Raumfahrer sind, aber ein bisschen wie der Camus’sche Sisyphos (also glücklich? jedenfalls »nicht verzagt«), mit keinem anderen Ziel, als monatelang sechzehn Mal täglich um die Erde zu rasen: »Ein neuer Tag, aber einer, an dem sie die Erde sechzehn Mal umkreisen. Sie werden sechzehn Sonnenaufgänge sehen und sechzehn Sonnenuntergänge.«
Nicht zufällig erscheint daher einer der Hauptfiguren einmal »die ewige stahlblaue Faszination« des Heimatplaneten im Traum, aber nicht als Blue Marble oder wie auf Earthrise, sondern als »das berüchtigte Foto, das Michael Collins während seiner ersten erfolgreichen Mondmission aufgenommen hat«: NASA Image ID-Nummer AS11-44-6642. Man sieht darauf »die Mondfähre mit Armstrong und Aldrin darin, direkt hinter ihnen der Mond, und etwa vierhunderttausend Kilometer weiter dahinter die Erde […] mit der Menschheit darauf. Es heißt, Michael Collins sei der einzige Mensch, der nicht auf dem Foto ist, und diese Vorstellung hat die Leute schon immer fasziniert. Jede einzelne andere Person, die nach Kenntnis der Menschheit in diesem Moment existierte, befinde sich auf diesem Foto« – gerade so, wie NASA-Mitarbeiterin Sandra Jones es auf der von der Artemis-Raumkapsel (der Orion) gemachten Aufnahme erkennen wollte.
Anton, dem fiktiven russischen Kosmonauten auf der ISS, will das indes nicht einleuchten. Verhält es sich nicht genau umgekehrt? »In Wahrheit ist niemand auf dem Bild, niemand ist zu sehen. Alle sind unsichtbar – Armstrong und Aldrin in ihrem Raumschiff, die Menschheit auf einem Planeten, der von hier aus betrachtet auch unbewohnt sein könnte. Der stärkste, am einfachsten herzuleitende Beweis für Leben auf dem Foto ist der Fotograf selbst«, und auch wenn es diesen gar nicht zwingend gebraucht hätte, ist so »an Collins’ Bild vielmehr die Tatsache faszinierend, dass er selbst eigentlich die einzige menschliche Präsenz darauf ist.«
Auch so regt dieser blassblaue Punkt, diese Murmel im All, zum Nachdenken an. Man sieht die vielen Milliarden von Menschenleben gar nie im Ganzen. Selbst aus der geringen Distanz der ISS: »Von der Raumstation aus betrachtet ist die Menschheit ein Wesen, das sich nur bei Nacht blicken lässt. Die Menschheit ist das Licht der Städte und die beleuchteten Glühfäden der Straßen. Bei Tag ist sie verschwunden. Sie wird unsichtbar.« Man sieht die Menschheit nicht und nicht die Menschen. Nur – bei Nacht glitzernd schön – die Verwüstungen, die sie anrichten. Aber nur von der Raumstation aus. Nicht vom Mond. Und schon gar nicht aus der Entfernung von sechs Milliarden Kilometern, aus der die Raumsonde Voyager 1 den Pale Blue Dot 1990 fotografierte. Da schwebt die Erde einfach so im Universum, wie sie es auch in Jahrmilliarden noch tun wird, egal wie »wir« – ob ausgestorben oder zur interplanetaren Spezies mutiert – sie hinterlassen haben werden.
So Andreas Bovenschulte laut Markus Langenstraß, »Space minded«: Söder will Raumfahrt trotz leerer Kassen stärken. In: BR24 vom 5. Juni 2025 (www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/space-minded-soeder-will-raumfahrt-trotz-leerer-kassen-staerken,UnGD4td).
Christoph Seidler, Armstrongs Erben. Was der neue Kampf der Supermächte um den Mond für uns bedeutet. München: Piper 2025. – Hieraus alle nicht anders nachgewiesenen Wort- und Sachzitate.
Der Bruch. In: Deutschlandfunk vom 9. Juni 2025 (www.deutschlandfunk.de/musk-trump-streit-bromance-doge-100.html). Der mutmaßlich Reichste und der angeblich Mächtigste drohten einander in diesem Schlagabtausch mit der Streichung staatlicher Unterstützung auf der einen, dem Rückzug von SpaceX aus NASA-Projekten auf der anderen Seite.
Space Force, 1. Staffel (2020), 1., 9. und 10. Folge.
Geleitwort des ESA-Astronauten Matthias Maurer zu Seidler, Armstrongs Erben.
Matthew R. Francis, Musk and Bezos Offer Humanity a Grim Future in Space Colonies. In: Scientific American vom 26. Juni 2023 (www.scientificamerican.com/article/musk-and-bezos-offer-humanity-a-grim-future-in-space-colonies/).
Isabella Hermann, Science-Fiction zur Einführung. Hamburg: Junius 2023.
Hannah Arendt, Die Eroberung des Weltraums und die Statur des Menschen [1963]. In: Dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. Hrsg. v. Ursula Ludz. München: Piper 2000. Vgl. Bernhard J. Dotzler, Orientierungssinnlosigkeit. In: Merkur, Nr. 856, September 2020.
Space Force, 2. Staffel (2022), 6. Folge.
Samantha Harvey, Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf. München: dtv 2024.