Musikkolumne
»Musikontologien« von Tobias JanzWas ist Musik? Wann ist etwas Musik? Im Alltagsleben stellen sich solche Fragen nicht, wo immer schon entschieden scheint, dass es sich bei dem, was man hört, macht oder nur beiläufig registriert, um Musik oder keine Musik handelt. Man begegnet ihnen in Grenzbereichen der Musik. Dort wo es der Musikphilosophie um die Bestimmung solcher Grenzen geht. Oder dort, wo irritierend Neues oder Fremdartiges die Reaktion, das sei keine Musik (mehr), provozieren mag. Die Musikwissenschaft weicht ontologischen Fragen nach ihrem Gegenstand gerne aus, manchmal ungehalten. Zu oft schon wurden sie gestellt und schlecht beantwortet; sie seien von vornherein falsch gestellt, denn mit Nietzsche gesprochen: Definieren lässt sich nur, was keine Geschichte hat. Hinter dieser Skepsis steht eine ausgesprochen moderne Haltung, die mit keiner unveränderlichen Ordnung des Seins mehr rechnet, keine stabile Identität von Begriffen und Kulturgegenständen kennt. So wie die Ontologie aber kei-neswegs aus der modernen Philosophiegeschichte verschwunden ist, ist sie auch gegenüber einer als geschichtlich und kulturell kontingent begriffenen Musik nicht obsolet geworden. Sie wird allerdings komplizierter, was sich allein daran zeigt, dass für einen »ontological turn« in der Musikforschung aktuell nicht in der analytischen Musikphilosophie, sondern in einem Bereich geworben wird, von dem man es früher nicht erwartet hätte – der Anthropologie.
Die Anthropologie sieht sich, was die Musik betrifft, in der globalisierten, digital immer enger verflochtenen Gegenwart mit einer überfordernden Gleichzeitigkeit kulturell ungleichzeitiger Musikformen konfrontiert. Gleichzeitigkeit bedeutet, dass der Geschichte keine Rationalisierung des Ganzen in Form eines erzählten Nacheinander mehr zugetraut wird. Ungleichzeitigkeit meint jenes kulturell Disparate, in das die als spannungsvoll plural und unübersichtlich erfahrene Gegenwart zu zerfallen scheint. Die neue Ontologie der Musik zielt, in ihrer anthropologischen Ausrichtung, nun nicht auf ein harmonisierendes Verständnis dieses Disparaten im Sinne eines umfassenden Seins, sondern umgekehrt auf eine Ontologisierung der Differenz. Von Ontologie wird deshalb nicht im Singular, sondern grundsätzlich im Plural gesprochen. Die Denkfigur hat Vorläufer, etwa bei Michel Foucault, der wie Husserl von regionalen Ontologien spricht, damit aber mehr als nur die Aufteilung der einen, formalen Ontologie in Bereichsontologien (der Sprache, der Natur, der Kunst, des Sozialen usw.) meint. Es geht um Heterogenitäten, denen historische Diskontinuitäten und kulturelle und epistemische Differenzen zugrunde liegen.
Wie ist das zu verstehen? Die radikale Variante, und ein wichtiger Bezugspunkt für die musikalische Diskussion, ist der Perspektivismus von Anthropologen wie Eduardo Viveiros de Castro oder Eduardo Kohn. Sie vertreten einen ontologischen Pluralismus, für den die okzidentale Rationalität keinerlei epistemischen Vorrang vor dem magischen Denken der indigenen Populationen des Amazonasbeckens hat. Im Gegenteil wird das wilde Denken (in langer anthropologischer Tradition) als deren Korrektiv ins Spiel gebracht. Die säkular-moderne Minimaldefinition von Musik als »humanly organized sound« (John Blacking), auf die sich die ältere Musikethnologie noch verständigen konnte, erscheint dann als unzureichend, als Ausdruck einer begrenzten, semantisch armen Ontologie. Mehr noch: In ihrem Anspruch auf universelle Geltung wäre sie ein Fall hegemonialen Denkens, das animistischen Musikpraktiken durch Subsumtion und Beschneidung um ihre spirituellen Dimensionen Gewalt antut. Was Musik im Rahmen indigener Musikontologien wäre, ginge verloren, wenn man es in die eine Ontologie westlicher Musikethnologie übersetzt. Der Plural lässt die Differenz bestehen.
Eine Ontologie, die auf diese Weise westliche Philosophie und animistisches Denken in ihrer Differenz umfasst, verschiebt und weitet den Begriff der Ontologie und nähert ihn dem Begriff der Kultur an. Wenn von »ontologies of music« gesprochen wird, dann nicht von ungefähr auf eine Weise, die in der Schwebe lässt, wo die Grenze zwischen der Ontologie als Form des Nachdenkens über Letztbegründungen und der davon erfassten Wirklichkeit liegt. Dies ist der Punkt, an dem die Dinge kompliziert oder schlicht verwirrend werden.
Die begriffliche Unschärfe ist die Konsequenz einer Kultursemiotik, für die sich auch die materielle Kultur als Text und Logos lesen lässt. »Musikontologie« ist dann nicht nur die Antwort auf die Frage, was Musik ist, inwiefern es sie gibt, was sie als Seiendes ausmacht. Es geht in einem umfassenderen Sinne um die Selbstkonzeptualisierung von Kulturen. »Ontologies of music« bezeichnet ganz unmetaphorisch auch begriffslose Musikpraktiken, in denen Musik vor allem körperlich vollzogen wird, ohne dabei als Denkobjekt thematisch werden zu müssen. Ontologie realisiert sich performativ, ist keine gedankliche Abstraktion, sondern bereits in den musikalischen Praktiken und ihren Objekten vorhanden, deren zeichenhafte Außenseite sich entziffern lässt. In posthumanistischer Lesart geht eine so verstandene Musikontologie in die Sphäre dessen über, was jenseits des menschlichen Denkens, jenseits des Humanen und quer zur (modernen) Unterscheidung von Kultur und Natur liegt. Tierlaute etwa oder der Signalaustausch von Pflanzen und Pilzen wären potentielle Musikontologien, in medientheoretischen Ansätzen die Schaltkreise einer posthumanistisch gedachten Technik.
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