Heft 895, Dezember 2023

Musikkolumne

»Musikontologien« von Tobias Janz

»Musikontologien«

Was ist Musik? Wann ist etwas Musik? Im Alltagsleben stellen sich solche Fragen nicht, wo immer schon entschieden scheint, dass es sich bei dem, was man hört, macht oder nur beiläufig registriert, um Musik oder keine Musik handelt. Man begegnet ihnen in Grenzbereichen der Musik. Dort wo es der Musikphilosophie um die Bestimmung solcher Grenzen geht. Oder dort, wo irritierend Neues oder Fremdartiges die Reaktion, das sei keine Musik (mehr), provozieren mag. Die Musikwissenschaft weicht ontologischen Fragen nach ihrem Gegenstand gerne aus, manchmal ungehalten. Zu oft schon wurden sie gestellt und schlecht beantwortet; sie seien von vornherein falsch gestellt, denn mit Nietzsche gesprochen: Definieren lässt sich nur, was keine Geschichte hat. Hinter dieser Skepsis steht eine ausgesprochen moderne Haltung, die mit keiner unveränderlichen Ordnung des Seins mehr rechnet, keine stabile Identität von Begriffen und Kulturgegenständen kennt. So wie die Ontologie aber kei-neswegs aus der modernen Philosophiegeschichte verschwunden ist, ist sie auch gegenüber einer als geschichtlich und kulturell kontingent begriffenen Musik nicht obsolet geworden. Sie wird allerdings komplizierter, was sich allein daran zeigt, dass für einen »ontological turn« in der Musikforschung aktuell nicht in der analytischen Musikphilosophie, sondern in einem Bereich geworben wird, von dem man es früher nicht erwartet hätte – der Anthropologie.1

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