Heft 886, März 2023

Nationalismus in der Zeitgeschichte

von Claudia C. Gatzka

Ich greife hier zahlreiche Überlegungen und Vorschläge auf, die aus Texten von und Gesprächen mit Dominik Rigoll stammen. Insbesondere: Dominik Rigoll /Yves Müller, Zeitgeschichte des Nationalismus. Für eine Historisierung von Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus als politische Nationalismen. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 60, 2020.

Der 22. Oktober 2022 hätte ein hübscher Gedenktag weiblicher Emanzipation werden können. Mit Giorgia Meloni trat die erste Frau das Amt der italienischen Ministerpräsidentin an. Ihren Landsleuten galten Weiblichkeit und leadership, wie die Italiener das seit dem Tod des Duce nennen, die längste Zeit als inkommensurabel, weil die Art, wie hier Politik kommuniziert und ästhetisiert wird, männliche Gebärden begünstigt. Frauen kamen durchaus in staatstragende Positionen. Die kommunistische Spitzenpolitikerin Leonide »Nilde« Jotti machte seit 1979 als Parlamentspräsidentin vor, wie das ging.

Als sie 1992 abtrat, fand Giorgia Meloni gerade ihren Weg in die Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano, der neofaschistischen Partei der italienischen Republik. Während Jotti wie viele ihrer Generation aus der faschistischen Jugendorganisation in den antifaschistischen Widerstand wechselte (was Italiener gemeinhin als »la scelta«, als aktive Wahl bezeichnen), folgte Meloni dem Pfad ihrer Mutter hinein in die neofaschistische Organisation, vereint mit ihrer Schwester. Keine Abnabelung also, kein Moment der Katharsis, keine scelta, sondern Familientradition – so ließe sich der Weg Melonis ins Milieu beschreiben. Während sich Jotti programmatisch als progressive Demokratin verstand und die Staatsfrau gab, auch an der Seite ihres Lebenspartners, des KPI-Chefs Palmiro Togliatti, lernte Meloni das Trommeln, das Zürnen, das Inszenieren der Gegendemokratie. Sie bezeichnet sich am ehesten als Journalistin, so wie ihr Lebenspartner, und Journalisten blicken ihrem Ethos gemäß von außen auf den Staat.

Es war keine Überraschung, dass die Kommunistische Partei zur Feminisierung der italienischen Demokratie beitrug, auch wenn eine große Minderheit der Wählenden darin Frevel erblickte. Das edle Geschlecht Italiens werde an die Sowjets verkauft, so hieß es in antikommunistischen Kreisen. Die KPI verfügte über den mit Abstand größten Frauenanteil in Italien, etwa 25 Prozent, und sie gewöhnte den öffentlichen Raum an Politik unter weiblichen Vorzeichen. Einzig von ihrer eigenen Darstellungskraft waren Kommunistinnen wenig überzeugt. Sie fühlten sich auf der Piazza, am Mikrofon, vor den Massen eher deplatziert. Meloni dagegen kann das.

Programmatisch mag sie die Letzte sein, die in Italien für Feminismus eintritt. Wie um das anzuzeigen, hat sie entschieden, sich offiziell »il Presidente del Consiglio« zu nennen und nicht »la Presidente«. Sie repräsentiert Italien so ostentativ in einer zur Tradition erhobenen Männerrolle, doch setzt sie ihre Weiblichkeit dabei sehr gezielt ein: Haare, Make-up, Kleidung, Lächeln – die zornige Postfaschistin gibt nicht das Flintenweib, sondern die Lady. Während ihr bullig wirkender Konkurrent Matteo Salvini immer einen Schweißfilm auf der Haut zu tragen scheint, kann Meloni der politischen Rechten durchaus einen eleganten, wenn auch vielleicht nicht staatstragenden Anstrich geben. Entsprechend betont sie immer wieder ihre Seriosität.

Der Blick liberaler Medien auf Giorgia Meloni sucht aus verständlichen Gründen das Rechtsextreme, Rechtsradikale, Ultrarechte an ihr hervorzuheben, verbrieft durch ihre neofaschistische Herkunft. Die Bezeichnungen variieren, doch Melonis Regierungspolitik wird bisher und wohl auch in Zukunft primär daraufhin gelesen, was es heißt, im Herzen Westeuropas, in einem führenden Industriestaat, in einer liberalen Nachkriegsdemokratie, die auf den Trümmern des Faschismus errichtet wurde, Politik von rechts zu betreiben. Allerdings werden der Aufstieg und die Wirkungsmacht von Figuren wie Meloni nicht umfassend verständlich, wenn man sie nur als rechtsextrem begreift. Um sie historisch einordnen zu können, muss gerade das Angepasste, das Nichtrechtsextreme an ihnen in den Blick kommen, wofür Weiblichkeit eine Referenz und eine symbolische Formensprache zur Verfügung stellt.

Gerade im deutschen Kontext ist das aber gar nicht so einfach, weil sich hier nach 1945 ein normativer Modus entwickelt hat, über extreme Rechte zu sprechen, der diese am Rand der Gesellschaft (und gemeinhin als männlich) verortet. Methodologische Marginalisierung führt aber leicht dazu, die Bündnisfähigkeit und Anschlussfähigkeit der politischen Rechten in der liberalen Demokratie aus den Augen zu verlieren, die in der Geschichte der europäischen Rechten übrigens lange Zeit selbst als weiblich imaginiert wurde. Wahlsiege wie jenen der Fratelli d’Italia, Melonis Partei, werden Zeithistoriker erst erklären können, wenn sie lernen, die Spuren jener Rechten zu lesen, die wie Frauen häufig unsichtbar blieben in der Geschichte von Politik und Öffentlichkeit.

Rechtsextremismus und Demokratie

Ist Meloni eine rechtsextreme Regierungschefin, gar ein rechtsextremer Ministerpräsident? Legt man die gängige politikwissenschaftliche Definition von Hans-Gerd Jaschke zugrunde, dann ist rechtsextreme Regierungspolitik im Rahmen der liberalen Demokratie eine contradictio in adiecto. Denn Rechtsextremismus ist als Protestform klassifiziert. Jaschke und andere subsumieren darunter all jene Einstellungen, Zielsetzungen und Aktionen, die diesen Protest klar als aggressive Negation der liberalen, auf Menschenrechten und Gleichheitsgrundsätzen fußenden Demokratie markieren. Wer Rechtsextremismus sagt, meint damit in aller Regel also eine antidemokratische Bewegung, die alle Pfeiler der liberaldemokratischen Ordnung zerstören will. In der Tat evoziert der Begriff so eher das Bild männlich dominierter Horden mit schwarz-weiß-roten Fahnen in staatsfernen Räumen Ostsachsens. Die Pressefotos im Zusammenhang mit dem Suchbegriff »Rechtsextremismus« in gängigen Suchmaschinen können das illustrieren.

Was das Konzept des Rechtsextremismus so nur schwer erfassen kann, sind (extreme) Rechte, die in die liberaldemokratische Ordnung integriert sind. Es lässt qua definitionem rechte Politik unberücksichtigt, die praktisch aufgehört hat, Opposition zum demokratischen System zu sein, oder die das ohnehin nie war, weil sie in Verflechtung mit liberaldemokratischen Institutionen auftrat. Giorgia Meloni ist, wie sie selber betont, ein Beispiel für eine solche Verflechtung. In der traditionellen Pressekonferenz zum Jahresende, wo sie in Schwarz-Weiß zwischen roten Weihnachtssternen saß und drei Stunden artig die nicht enden wollenden Fragen der Journalisten beantwortete, stellte sie die These auf, der Movimento Sociale Italiano habe eine »sehr wichtige Rolle im republikanischen Italien« gespielt und Millionen von Italienern eine Brücke in die Demokratie gebaut. Die Neofaschisten hätten sich bei der Eindämmung von politischer Gewalt und Terrorismus bewährt – eine besonders bizarre Verdrehung der Tatsachen, denn von ihnen ging die politische Gewalt im Nachkriegsitalien wesentlich aus – und sich im »Kampf gegen Antisemitismus« klar positioniert. Meloni erzählt im Grunde dieselbe Geschichte über die neofaschistische Partei, die deutsche Zeithistoriker über die Unions-Parteien erzählen: Indem sie Rechten, darunter auch »Ex«-Faschisten und »Ex«-Nazis, eine neue politische Heimat gaben, neutralisierten sie deren Extremismus und integrierten diese in den liberalen Verfassungsstaat.

Man mag die demokratische Rhetorik für Mimikry halten und für Blendung. Man mag davon ausgehen, dass liberaldemokratische Normen und Institutionen den Rechtsextremen immer nur zum Aufstieg dienen und dann langsam, aber sicher von ihnen ausgehöhlt werden. Doch man kann sich auch der normativen Herausforderung stellen, die praktische, obgleich normativ unerwünschte Kompatibilität rechtsextremer Politik und liberaldemokratischer Strukturen genauer zu untersuchen. Das Paradox, dass Personen, die als rechtsextrem gelten, liberale Demokratien repräsentieren können, wäre ein geeigneter Ausgangspunkt für eine historische Spurensuche.

Diese jedoch benötigt spezielle Werkzeuge, also geschichtswissenschaftliche Analysebegriffe, um Verschränkungen sichtbar zu machen, die durch die herkömmliche Nomenklatur unsichtbar bleiben. Begriffe wie »Rechtsextremismus«, »Rechtsradikalismus« und »Neonazismus« dienten in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zur Kennzeichnung gewisser Organisationen und Personen als Gegner der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Sie dienten der Unterscheidung zwischen jenen, die vom Staats- und Verfassungsschutz überwacht werden sollten, und jenen, denen man vertraute oder zu vertrauen vorgab. Der Begriff evoziert die Vorstellung einer gemäßigten »Mitte« (bisweilen gleichgesetzt mit »Gesellschaft«), an deren Rand nach einem Korridor der »Radikalität« schließlich die Grenze zu den Extremen gezogen ist. Wahlsiege wie der Melonis lassen sich dann nur paradox als Resultat eines »Rechtsextremismus der Mitte« fassen, der Aufstieg des Rechtspopulismus als eine Form der Radikalisierung der Mitte.

Weitere Artikel des Autors