Heft 891, August 2023

Neue Literaturgeschichte

Ein Darstellungsproblem und drei Auswege von Marcel Lepper

Ein Darstellungsproblem und drei Auswege

Auf Twitter schlugen die Wellen hoch, als Dieter Borchmeyer, der Tradition der Entstehung des Doktor Faustus folgend, die Gelingensgeschichte seines monumentalen Thomas Mann in der Neuen Zürcher Zeitung feierte. Die dezente Lösung gegen Rezensionskummer: »Autor:innen schreiben selbst über ihre schier unglaublichen Leistungen«, kommentierte die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier auf Twitter. Tobias Rüther stellte sich einen Dialog zwischen zwei Redakteuren vor, die sich über die Rezensionsvergabe unterhalten und vom Autor der Biografie unterbrochen werden: »Hold my beer.« Andere Kommentatoren hingegen wussten sich von Borchmeyers Erfahrungsbericht gut unterhalten, schätzten die Überzeugungstat und fanden die Häme missgünstig. Selbstlob sei zwar unfein, aber treffe im gegebenen Fall immerhin nicht den Falschen, so urteilte Edo Reents in der FAZ. Die Kollegen (ohne :innen) von der Konkurrenz hatten zuvor ähnlich argumentiert.

Dicke Bücher

»Geld fürs Lesen gibt’s ja leider nicht. Schade nur, dass man nach dem Lesen einer Selbstrezension immer noch keine Ahnung hat, ob das Werk etwas taugen könnte«, so Larissa Kunert. Dass es etwas taugt, behaupten jedenfalls die Sachbuch-Bestenlisten. Dort steht Dieter Borchmeyers Thomas Mann nicht allein. Volker Reinhardt über Voltaire, Jan Philipp Reemtsma über Christoph Martin Wieland: Der Buchmarkt des 21. Jahrhunderts formatiert Literaturgeschichte in hohem Maße personenzentriert. Er überbrückt damit ein Vermittlungsproblem: Literaturgeschichte, chauvinistisch diskreditiert, kann nicht mehr so erzählt werden, als seien Nationen oder Völker ihre Subjekte. Sie sucht sich Auswege. Der erste ist einfach. Literaturgeschichte reduziert sich auf die Reichweite der einzelnen Person – passt aber keineswegs ihren Umfang an. Während die über Jahrzehnte erfolgreichen Rowohlt Monographien glücklicherweise mit einem halben Dutzend Neuerscheinungen pro Jahr weiterleben, müssen sie gegen Schwergewichte antreten, so gegen die 794 Seiten Nachträge, die Karl Corino kürzlich zu einst 2026 Seiten Robert Musil nachlieferte.

Biografie als Ausweg Nummer eins aus einer national nicht mehr vertretbaren, global nicht leistbaren Literaturgeschichte: Das gilt auch für die Anglo- und Frankophonie. Michel Winock über Gustave Flaubert, Claude Burgelin über Georges Perec, Blake Bailey über Philip Roth. Winock und Bailey erschienen in Übersetzung bei Hanser, 656 und 1088 Seiten. Burgelin ist unlängst bei Gallimard herausgekommen. Seine Übersetzer dürfen sich auf schlanke 432 Seiten freuen. Autoren, Biografen, Übersetzer: Man muss keinen Grundkurs in Gender Studies besuchen, um das Muster zu erkennen. Aber man sollte: Wenn diese Unternehmungen auf den ersten Blick bildungs- und geschlechterpolitisch, demografiebezogen und medientechnologisch rückwärtsgewandt wirken, dann scheinen fünf Jahrzehnte Kanon- und Machtkritik ihrem Erfolgsmodell, vordergründig betrachtet, kaum etwas anhaben zu können, kein Hashtag #frauenzählen oder #breiterkanon. Daran ändern auch Gegenstücke nichts, Dagmar von Gersdorffs Ottilie von Goethe, Dorothea Zwirners Thea Sternheim, Heather Clarks Sylvia Plath.

Sie unterbreiten wie ihre männlichen Pendants vergleichsweise niedrigschwellige Angebote. Das ist, für sich genommen, nicht verwerflich – und wenn, wie bei Borchmeyer, der Blick von der Biografie zurück auf das Werk gelenkt wird, umso besser. Bemerkenswerter ist, dass diese Bücher im Forschungs- und Lehrbetrieb kaum eine Rolle spielen, während sie in der Öffentlichkeit als Meisterleistungen eben dieses Betriebs gefeiert werden. Warum? Ihnen fehlt in der Regel die gerichtete Fragestellung, die methodische und begriffliche Scharfstellung. Stattdessen plaudern sie, kenntnisreich und entspannt.

Wissenschaft wäre nicht listig, wäre es ihr nicht längst gelungen, das biografische Genre auf der Gegenstands-, nicht auf der Forschungsseite einzusortieren. Eindrucksvolle Handbücher über Biografik sind entstanden, und in Wien gab es bis 2019 sogar ein Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, das inzwischen in einen gleichnamigen Forschungsverbund überführt wurde. Die List des Genres schlug freilich zurück. Produziert hat das Wiener Institut wenig Historisches und Theoretisches, dafür vor allem eines: Biografien zu Hugo von Hofmannsthal, Ernst Jandl und Thomas Bernhard.

Dass Literaturgeschichte sich nicht abstrakt ausstellen lässt, wissen auch Museumsdirektorinnen und Kuratoren: Natürlich gibt es die gewagten Präsentationen, die auf Strukturen, Gruppen, Kontexte setzen. Aber Literaturausstellungen können noch so viel über die Möglichkeitsbedingungen von Literatur nachdenken. Ein Publikum ziehen sie an, wenn sie auf Personalisierung setzen, Kanonkritik- und Methodenseminare hin oder her: 2024 zeigt Marbach Franz Kafka, 2025 Rainer Maria Rilke, 2026 Martin Heidegger.

Thomas Mann: eine Lebensaufgabe

Der Auftritt von Dieter Borchmeyer zu seinem Thomas Mann zeugte von Innovationsansprüchen, die Anlass zu ungläubigem Staunen gaben. Borchmeyer, so heißt es in der Verlagsankündigung, lege die »erste umfassende Monographie zum Werk des Nobelpreisträgers« Thomas Mann vor. Wirklich? Zugegeben: 1552 Seiten hat noch kein Einzelner seiner Werkbiografen an einem Stück erreicht. Aber was ist mit Hanjo Kesting, Hermann Kurzke, Klaus Schröter, Klaus Harpprecht, Edo Reents? Mit der voluminösen Familiengeschichte von Tilmann Lahme? Den Episodendarstellungen von Herbert Lehnert und Hans Vaget? Den umfangreichen Handbüchern von Helmut Koopmann, Andreas Blödorn und Friedhelm Marx? Waren sie nicht auf ihre Weise umfassend?

Borchmeyer schildere, so heißt es in der Verlagsankündigung weiter, »nicht nur die Lebensstationen Manns von Lübeck über München und Pacific Palisades bis nach Zürich, sondern beschreibt das Werk in seiner Totalität, setzt es in Beziehung zu seiner sozialgeschichtlichen, ästhetischen und weltliterarischen Tradition, und erläutert seine Verortung in der geistigen Situation der Zeit«. Lübeck, München, Pacific Palisades, Zürich: Das klingt gerade so, als hätte noch niemand davon gehört; als bestünde ein erheblicher Mangel an Thomas-Mann-Gedenkstätten, Bildbänden, Ausstellungskatalogen, digitalen Präsentationen.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors