Neue Literaturgeschichte
Ein Darstellungsproblem und drei Auswege von Marcel LepperEin Darstellungsproblem und drei Auswege
Auf Twitter schlugen die Wellen hoch, als Dieter Borchmeyer, der Tradition der Entstehung des Doktor Faustus folgend, die Gelingensgeschichte seines monumentalen Thomas Mann in der Neuen Zürcher Zeitung feierte.1 Die dezente Lösung gegen Rezensionskummer: »Autor:innen schreiben selbst über ihre schier unglaublichen Leistungen«, kommentierte die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier auf Twitter. Tobias Rüther stellte sich einen Dialog zwischen zwei Redakteuren vor, die sich über die Rezensionsvergabe unterhalten und vom Autor der Biografie unterbrochen werden: »Hold my beer.«2 Andere Kommentatoren hingegen wussten sich von Borchmeyers Erfahrungsbericht gut unterhalten, schätzten die Überzeugungstat und fanden die Häme missgünstig. Selbstlob sei zwar unfein, aber treffe im gegebenen Fall immerhin nicht den Falschen, so urteilte Edo Reents in der FAZ.3 Die Kollegen (ohne :innen) von der Konkurrenz hatten zuvor ähnlich argumentiert.4
Dicke Bücher
»Geld fürs Lesen gibt’s ja leider nicht. Schade nur, dass man nach dem Lesen einer Selbstrezension immer noch keine Ahnung hat, ob das Werk etwas taugen könnte«, so Larissa Kunert.5 Dass es etwas taugt, behaupten jedenfalls die Sachbuch-Bestenlisten. Dort steht Dieter Borchmeyers Thomas Mann nicht allein. Volker Reinhardt über Voltaire, Jan Philipp Reemtsma über Christoph Martin Wieland: Der Buchmarkt des 21. Jahrhunderts formatiert Literaturgeschichte in hohem Maße personenzentriert. Er überbrückt damit ein Vermittlungsproblem: Literaturgeschichte, chauvinistisch diskreditiert, kann nicht mehr so erzählt werden, als seien Nationen oder Völker ihre Subjekte. Sie sucht sich Auswege. Der erste ist einfach. Literaturgeschichte reduziert sich auf die Reichweite der einzelnen Person – passt aber keineswegs ihren Umfang an. Während die über Jahrzehnte erfolgreichen Rowohlt Monographien glücklicherweise mit einem halben Dutzend Neuerscheinungen pro Jahr weiterleben, müssen sie gegen Schwergewichte antreten, so gegen die 794 Seiten Nachträge, die Karl Corino kürzlich zu einst 2026 Seiten Robert Musil nachlieferte.6
Biografie als Ausweg Nummer eins aus einer national nicht mehr vertretbaren, global nicht leistbaren Literaturgeschichte: Das gilt auch für die Anglo- und Frankophonie. Michel Winock über Gustave Flaubert, Claude Burgelin über Georges Perec, Blake Bailey über Philip Roth.7 Winock und Bailey erschienen in Übersetzung bei Hanser, 656 und 1088 Seiten. Burgelin ist unlängst bei Gallimard herausgekommen. Seine Übersetzer dürfen sich auf schlanke 432 Seiten freuen. Autoren, Biografen, Übersetzer: Man muss keinen Grundkurs in Gender Studies besuchen, um das Muster zu erkennen. Aber man sollte: Wenn diese Unternehmungen auf den ersten Blick bildungs- und geschlechterpolitisch, demografiebezogen und medientechnologisch rückwärtsgewandt wirken, dann scheinen fünf Jahrzehnte Kanon- und Machtkritik ihrem Erfolgsmodell, vordergründig betrachtet, kaum etwas anhaben zu können, kein Hashtag #frauenzählen oder #breiterkanon. Daran ändern auch Gegenstücke nichts, Dagmar von Gersdorffs Ottilie von Goethe, Dorothea Zwirners Thea Sternheim, Heather Clarks Sylvia Plath.