Heft 887, April 2023

Neutrale Politik?

Über eine Theorie des kommunikativen Regierungshandelns von Florian Meinel

Über eine Theorie des kommunikativen Regierungshandelns

Vor dem Strukturwandel (Teil I und II)

Die Bundesrepublik hatte im Abstand von sechs Jahrzehnten zweimal mit einem »Strukturwandel« ihrer Öffentlichkeit zu tun. So jedenfalls Jürgen Habermas in zwei ungleichen Texten von 1962 und 2022. Sein klassisches Frühwerk traf die Lage, weil es der liberal-konservativen Rekonstruktion einer freien Zeitungs-, Medien-, Parlaments- und Regierungsöffentlichkeit in der jungen Bundesrepublik ihre nur scheinbare Offenheit vorhielt (in Wirklichkeit ist Macht, so Habermas, im refeudalisierten Sozialstaat immer schon verteilt, bevor öffentlich gesprochen wird), weil es aber gleichzeitig gegenüber der marxistischen Kritik an der Öffentlichkeit darauf bestand, dass Rede und Sprache nicht nur Teil des Überbaus, sondern Basis vernünftiger und freier Vergesellschaftung sind. Habermas’ Antwort hat es in alle Lehrbücher geschafft: Demokratische Herrschaft soll heißen: herrschaftsfreie Diskursregeln.

Was ist mit einer normativen Theorie der Öffentlichkeit in der Gegenwart noch anzufangen? Habermas’ »neuer Strukturwandel« von 2022 schließt sich der üblichen Problembeschreibung an: soziale Medien, Krise des Öffentlichen, Krise der Demokratie, Polarisierung, Kommerzialisierung. Die Regeln des öffentlichen politischen Sprechens verändern sich. Können die Regeln, wer wie sprechen darf, offen sein gegenüber allen Meinungen und in diesem Sinne herrschaftsfrei? Kann darin die Einheit der Öffentlichkeit liegen? Beides sind für die Öffentlichkeiten der Gegenwart keine besonders naheliegenden Leitvorstellungen.

Interessanterweise war beiden Zeitdiagnosen ein sehr konkreter Strukturwandel des Verfassungsrechts der Öffentlichkeit vorausgegangen. Kurz vor dem ersten Strukturwandel brachte das Bundesverfassungsgericht mit dem wohl berühmtesten Urteil seiner Geschichte in der Rechtssache »Lüth« (1958) eine grundsätzlich andere Verfassung der öffentlichen Meinung ins Spiel: Es verbot einer Filmverwertungsgesellschaft, missliebige Kritik an der NS-Vergangenheit des Regisseurs Veit Harlan unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsschädigung mundtot zu machen, und interpretierte Grundrechte damit als Garantien eines chancengleichen Zugangs zur Öffentlichkeit. Wenig später machte das Gericht Adenauers Pläne für ein von der Bundesregierung kontrolliertes Deutschland-Fernsehen (1961) zunichte und schuf die Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Medienordnung der Bundesrepublik: Staatsfreiheit, Programmfreiheit, Gremienpluralismus. Gesagt war damit: Die Regeln der öffentlichen Rede sind demokratisch, wenn sie den Zugang zur Öffentlichkeit unparteiisch, das heißt meinungsneutral ausgestalten.

Wenige Jahre vor dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit hingegen begann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik, eine neue und andere Grundregel dagegenzustellen. Auf die Krise der journalistischen Ver-Mittelung einer Politik, die auf allen Kanälen und unter Echtzeitdruck und Authentizitätszwang zu ihrem fragmentierten Publikum spricht, hat das Verfassungsrecht reagiert mit einem Gebot der Abkühlung. Sofern politische Rede mit staatlicher Macht verbunden ist, reicht der Rechtsprechung heute die Offenheit und Neutralität des Zugangs nicht mehr aus, die Rede des handelnden politischen Personals muss selbst durch Sprachregeln begrenzt, nämlich neutralisiert werden. Staatliche Herrschaft soll in ihrer Erscheinungsform in der Öffentlichkeit, so das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Reihe neuerer Entscheidungen, durch ein allgemeines »Gebot staatlicher Neutralität«, durch ein »Neutralitäts- und Sachlichkeitsprinzip« begrenzt sein.

Neutralität als gleiche Chance

Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Rechtsprechung mit dem demokratischen Grundsatz der gleichen Chance. Die Offenheit des politischen Wettbewerbs ist danach verletzt, wenn sich Amtsträger in einseitiger oder parteipolitischer statt in sachlich-neutraler Weise äußern. Die Prämisse dieser Rechtsprechung ist gut zu begründen: Demokratie heißt elektorale Konkurrenz. Das Medium, in dem der Stimmenwettbewerb stattfindet, heißt Öffentlichkeit. Damit der Wettbewerb fair ist, müssen die Wettbewerbsbedingungen gleich und die Ressourcen fair verteilt sein. Deswegen gibt es Regeln über staatliche Parteienfinanzierung, Parteispendentransparenz und Wahlwerbesendezeiten, deswegen ist der Missbrauch von staatlichen Haushaltsmitteln zu Wahlkampfzwecken verboten.

Das Gericht geht aber weiter, beschränkt die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb nicht mehr auf materielle Ressourcen und Wettbewerbsbedingungen, sondern erstreckt sie auf einen Grundsatz der Neutralität der politischen Rede im Amt. »Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb liegt vor, wenn Regierungsmitglieder sich am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten zurückgreifen.« Und: »Eine Partei ergreifende Äußerung eines Bundesministers im politischen Meinungskampf verstößt gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und verletzt die Integrität des freien und offenen Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, wenn sie unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine aus der Autorität des Amtes fließende besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen

Im Zentrum dieser Rechtsprechung steht ein Verbot der Vermischung von politischer Rede und öffentlichem Amt. Wettbewerbswidrig ist es, wenn demokratische Herrschaft als Herrschaft nicht neutral, sondern politisch spricht. Die freie politische Rede im Amt erscheint dieser Rechtsprechung als strukturell verdächtig und verfassungsrechtlich problematisch, sachliches Verwalten und regierendes Schweigen hingegen als strukturell unverdächtige und vorzugswürdige Kommunikationsform demokratischer Macht. Die Rechtsprechung steht also auf dem rätselhaften Standpunkt, dass »über Politik in amtlicher Eigenschaft nicht mehr politisch gesprochen werden darf«. So hat es Christian Neumeier in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Rekonstruktion der Eigenarten des deutschen öffentlichen Rechts formuliert und die Neutralitätsrechtsprechung als letzte Wiederkehr seines politischen Grundproblems gelesen. Seine Deutung führt die Verwaltungshaftigkeit verfassungsrechtlicher Grundbegriffe der Bundesrepublik auf die verzweifelte Situation des deutschen Liberalismus seit 1848 zurück: Wie lassen sich rechtsstaatlich gebundene Institutionen ohne politische Freiheit denken? Und was heißt politische Freiheit heute?

Die Fälle, an denen sich jene Theorie des kommunikativen Regierungshandelns gebildet hat, sind ein eher jüngeres Phänomen, denn verfassungsgerichtliche Verfahren gegen Äußerungen gewählter Amtsträger häufen sich erst, seit sie eine Säule der Strategie rechtspopulistischer Parteien sind, nicht erst, aber vor allem seit der Gründung der AfD. Mit ihnen lässt sich die eigene Obsession – Ungleichheit und Diskriminierung – nämlich recht kostengünstig als Unrecht der anderen ausflaggen. Einige Beispiele: Die NPD klagte 2014 gegen die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die es öffentlich als »Ziel Nummer 1« ausgegeben hatte, »dass die NPD nicht in den Landtag kommt«. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts beanstandete die Äußerung nur deswegen im Ergebnis nicht, weil sie zwar nicht neutral, aber hinreichend sachlich war.

Danach handhabte das Gericht das Neutralitätsprinzip immer restriktiver. Johanna Wanka, seinerzeit Wissenschaftsministerin, durfte Ende 2015 zu einem Demonstrationsaufruf der AfD (»Rote Karte für Merkel – Asyl braucht Grenzen«) nicht sagen: »Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden.« Horst Seehofer beging einen Verfassungsverstoß, als er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die parlamentarischen Provokationen der AfD als »staatszersetzend« bezeichnete.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors