Polarisierung und Ressentiment
Ein Nachtrag zur Debatte* von Helmut DraxlerIn den letzten Jahren, insbesondere seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA im November 2016, ist im Rahmen der öffentlichen Debattenkultur ein Deutungsmuster hinsichtlich des Zustands der gesellschaftlichen Verhältnisse in den westlichen Demokratien auf besondere Resonanz gestoßen. Im Kern besagt es, dass wir in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft leben und dass sich diese zunehmende Polarisierung vor allem starken Ressentiments einzelner sozialer Gruppen gegeneinander verdanke. Inzwischen gibt es eine Reihe durchaus seriöser Publikationen, die die These vom Zusammenhang zwischen Polarisierung und Ressentiment aufnehmen und beanspruchen, diesen Zusammenhang im Sinne einer Erneuerung Kritischer Theorie besser zu verstehen und die Spaltung dabei gleichzeitig zu überwinden oder sogar zu heilen.
Die meisten der aktuellen Beiträge leisten aus ihren jeweiligen philosophischen, psychologischen oder ökonomiekritischen Perspektiven heraus durchaus einiges an phänomenaler Klärung; sie scheinen mir jedoch die eigentliche Herausforderung zu verfehlen, die die Begriffe der Polarisierung und des Ressentiments sowohl für den zeitdiagnostischen Einsatz als auch für die kritische Reflexion selbst darstellen. Die nämlich bestünde darin, bei der Kritik am Ressentiment der Anderen zunächst von den je eigenen Ressentiments auszugehen. Meines Erachtens dürfte insbesondere der Mangel an psychoanalytischen Einsätzen dafür verantwortlich sein, dass die psychopolitischen Spekulationen zumeist etwas oberflächlich bleiben und der je eigene Standpunkt auf seltsame Weise den diagnostizierten Verhältnissen enthoben zu sein scheint.
Polarisierung oder Polarität
Die These von der Polarisierung der Gesellschaft setzt neben der negativen Bewertung eines solchen Zustands stets auch logische, psychologische und soziale Dimensionen des Begriffs der Polarität selbst voraus. Bereits Hegel hat die Polarität klar von der Dualität beziehungsweise dem Antagonismus unterschieden. Während diese jeweils unversöhnliche und radikal unvermittelte Gegensätze anzeigen, bleiben die Gegensätze im Rahmen einer Polarität – also etwa warm /kalt, hell /dunkel, gesund /krank – stets aufeinander bezogen, wobei der jeweils eine Pol nicht ohne den anderen zu haben ist. Als ein logisches Problem betrachtet, wirft der Begriff der Polarität also die Frage auf, welche Differenzen überhaupt als Gegensätze aufgefasst und wie sie als solche gedacht werden können; ferner, ob die Gegensätze in den Dingen selbst liegen und somit von ontologischer Relevanz sind – oder ob sie sich den Strukturen unseres Denkens, Wollens und Fühlens verdanken.
Hinzu kommt, dass Polaritäten wie Dualismen Fragen sowohl nach dem, was zwischen ihnen liegt – dem Riss, dem Bruch oder der Differenz –, indizieren als auch nach ihrer möglichen Einheit oder Ganzheit. Eine solche kann wiederum als immer schon verlorene oder erst zu gewinnende Totalität aufgefasst oder eher im Sinne eines systemischen Zusammenhangs verstanden werden, als ein dynamisches System, dessen äußere Grenzen flexibel bleiben. Jeweils entsteht hier das Problem, wie zu einer wie auch immer verstandenen Einheit zu kommen sei, ob auf dem Weg von Ausgleich und Versöhnung oder auf dem Weg einer Konfrontation, wodurch der Gegenpol gleichsam weggesprengt werden soll, und schließlich ob eine Art von Dialektik der Aufhebung der Gegensätze vorstellbar wäre, wodurch wiederum ein Drittes, ein dritter Pol oder eine Synthesis ins Werk gesetzt werden könnte.
Die Übertragung dieser logischen Fragestellungen auf psychologische oder soziale Aspekte ist sicherlich nicht ganz einfach und doch, was die psychologische Dimension der Polaritäten betrifft, in vielerlei Hinsicht überzeugend. Die meisten affektiven Qualitäten beziehungsweise die entsprechenden psychischen Zustände wie Liebe und Hass, Neid und Gier, Stärke und Schwäche, Autonomie und Abhängigkeit oder das Manische und das Depressive lassen sich nur in ihrer Bezogenheit aufeinander sinnvoll begreifen. Die relationale Psychoanalyse geht dementsprechend von einer bipolaren psychischen Strukturbildung aus, wobei diese Strukturbildung durch Delegationsakte, also durch Projektionen auf andere und durch Introjektionen von anderen, weit in das biopsychosoziale Feld hineinreicht. Und doch gibt es durchaus psychische Momente, bei denen die bipolare Zuordnung schwerfällt, etwa bei der Angst oder eben auch beim Ressentiment. In beiden Fällen lässt sich kaum ein eindeutiger Gegenbegriff finden.
Auch auf der sozialen Ebene haben wir es vielfach mit polaren Verhältnissen etwa zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten, Reichen und Armen, Weißen und People of Colour zu tun. Gesellschaft definiert sich erst über derartige Unterschiede und wirft mithin immer schon die Frage auf, wie diese Unterschiede verstanden werden sollen. Im politischen Diskurs dominieren Bestimmungen, die eher an Dualismen oder Antagonismen denn an Polaritäten orientiert sind beziehungsweise werden, die Polaritäten gerne als Antagonismen interpretieren, was die je eigene Positionierung und Durchsetzungsfähigkeit im sozialen Feld erleichtert. Die Interpretation von gesellschaftlichen Polaritäten im Sinne von »wirklichen Extremen« oder nach dem Muster von Freund und Feind lässt die These zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung plausibel erscheinen, obwohl gerade jede konkrete soziale Zuordnung zu eindeutig antagonistischen Klassen zunehmend schwer fällt. Auch scheint es einen bestimmten Deutungsspielraum selbst bei antagonistischen Verhältnissen zu geben, etwa ob sie nicht doch – wie im Fall von Herr und Knecht – in Anerkennungsprozessen aufeinander angewiesen bleiben, und vor allem auch eine Vielfalt an Verhältnissen, etwa der Kapitalisten untereinander, die in einem polaren oder »agonalen« Verhältnis zueinander stehen im Gegensatz zum antagonistischen Verhältnis zwischen Kapitalisten und Proletariern.
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