Heft 892, September 2023

Würde kann es nur für alle geben

Zu Omri Boehms »Radikaler Universalismus« von Helmut Draxler

Zu Omri Boehms »Radikaler Universalismus«

Die Erfahrung von Ungerechtigkeit scheint in den unterschiedlichen sozialen Kämpfen der Gegenwart in erster Linie eine Frage des Bewusstseins der eigenen Rechte zu sein. Diese wahrzunehmen setzt voraus, sich zuallererst der je eigenen Identität im Sinne einer bestimmten sozialen Zugehörigkeit zu versichern, um sie im Gefüge gesellschaftlicher Machtverhältnisse in Stellung bringen zu können. Emanzipatorische Politiken agieren fast durchgehend innerhalb eines solchen Bezugsrahmens aus Rechten, Identitäten und Macht; dabei bleibt jedoch ein irritierendes Moment erhalten, das die subjektkonstitutiven Voraussetzungen ebenso wie die kollektiven Vorstellungsweisen dieses Bezugsrahmens betrifft.

So fällt es etwa schwer, aus diesem heraus überhaupt noch eine Einheit sozialer Kämpfe und mithin das Verhältnis der unterschiedlichen emanzipatorischen Projekte zueinander zu denken; ebenso bleiben die negativen Abgrenzungsakte gegenüber denjenigen, die dem eigenen Emanzipationsanspruch entgegenstehen, weitgehend unbestimmt, was wiederum einen Raum für Gegenmobilisierungen im Namen anderer Rechte, Identitäten und Mächte öffnet.

Denn solange etwa Macht als dasjenige identifiziert wird, gegen das die eigene subjektive Anstrengung – im Sinne einer reinen Machtkritik – gesetzt wird, bleibt ausgespart, dass eine solche Setzung selbst notwendigerweise eine Form der Selbstermächtigung, mithin auch eine Ausübung von Macht impliziert. Zugleich muss die Möglichkeit, ein bestimmtes Recht zu beanspruchen, grundsätzlich auch für alle anderen gelten, ansonsten hätten wir es mit einem Privileg zu tun (die Frage, welche Macht ein solches Recht überhaupt in Geltung gesetzt hat, einmal beiseite gelassen). Und Identität ist als grundlegende soziale Referenz für jede Vorstellung von Emanzipation unerlässlich; gleichzeitig begrenzt sie diese jedoch auf gravierende Weise, vor allem, wenn sie als Identitätspolitik kaum mehr von der Durchsetzungspolitik bestimmter Interessensgruppen unterschieden werden kann.

In dieses Problemfeld hinein hat Omri Boehm im letzten Jahr eine prägnante theoriepolitische Intervention in Form eines schmalen Bands zu einem »Radikalen Universalismus« vorgelegt, die bereits eine intensive Resonanz gefunden hat. Sie reicht von der Kennzeichnung als einer »Sternstunde der Philosophie«, so Martin Saar bei einer Buchpräsentation am 16. April 2023 in der Berliner Schaubühne, bis hin zu einer kühlen Zurückweisung, vor allem aus dem identitätspolitischen Umfeld, dem bereits Boehms Verteidigung Kants suspekt und hinsichtlich seines Rassismus als nicht ausreichend erscheint. Die philosophischen und politischen Implikationen von Boehms Ansatz sind in der bisherigen Rezeption jedoch keineswegs ausgeschöpft worden und verdienen eine genauere Auseinandersetzung, eben weil daran viele der impliziten Voraussetzungen und Widersprüche der aktuellen politischen Diskurse sichtbar werden.

Boehms Intervention setzt an zwei zentralen Punkten an: Über eine bloße Kritik der Rechte, der Identitäten und der Macht hinaus bringt er einen moralischen Universalismus als dogmatischen Kern jeder Vorstellung von Emanzipation in Stellung, und davon abgeleitet betont er die Pflichten und nicht die Rechte der Einzelnen. Ein solch direkter Rekurs auf die kantische Pflichtethik im Namen eines unbedingten moralischen Gesetzes und dessen biblischen, sprich: abrahamitischen Voraussetzungen mag im Feld heutiger Theorieproduktionen zumindest als überraschend angesehen werden, gilt doch gerade der Universalismus darin als ein äußerst problematischer Begriff.

Boehm gelingt es jedoch, mit der Abgrenzung vom pragmatischen Verständnis des Universalismus im Sinne konkreter Menschen-, Freiheits- oder Eigentumsrechte einige der impliziten Widersprüche des liberalen Denkens von Emanzipation in seinen philosophischen und politischen Voraussetzungen zu explizieren. Gleichzeitig wirft dieser Ansatz allerdings eine Reihe von Fragen philosophischer und politischer Art auf, die das Buch selbst nicht beantworten kann, die jedoch immerhin zu einem weiteren Nachdenken anregen.

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