Rechtskolumne
Notbremse gegen die Notstandslogik: Brauchen wir ein demokratisches Recht auf Entschleunigung? von Florian MeinelNotbremse gegen die Notstandslogik: Brauchen wir ein demokratisches Recht auf Entschleunigung?
1923, das Krisenjahr der Weimarer Republik und ihrer Verfassung, dessen stupende Parallelen zur Gegenwart eine Flut von Neuerscheinungen ausgelotet hat, markiert nicht zuletzt den Beginn der modernen Parlamentarismuskritik – und das Ende der alten. Die Konservativen hatten die parlamentarische Regierung von jeher abgelehnt, weil sie zwangsläufig allgemeines Wahlrecht, also die politische Inklusion nicht urteilsfähiger Volksmassen bedeutete. Marx wiederum, weil er nicht nur die Verknüpfung von Wahlrecht und Besitz, sondern auch Repräsentation für Ideologie und damit für ein Element der Klassenherrschaft hielt. Nun aber gab es seit dem November 1918 gleiches Wahlrecht und gewerkschaftliche Betätigungsfreiheit; weder die eine noch die andere Form von Parlamentarismuskritik konnte insofern einfach fortgeschrieben werden. Die moderne Form des Antiparlamentarismus, die Carl Schmitt in seinem Buch über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 erfand, argumentiert stattdessen demokratisch.
Liberale Diskussion und demokratische Diktatur
Das Prinzip des Parlamentarismus, so Schmitts bekanntes Argument, sei »relativer Rationalismus«; der liberale Glauben an die Gesetzgebung als Prozess der Etablierung der öffentlichen Meinung in einer unendlichen Diskussion. Tatsächlich sei er aber nur eine Fassade von Parteiführungen und Interessenverbänden. Wirkliche Demokratie hingegen bedeutet die Fähigkeit zu unmittelbarem Handeln, bedeutet eine plebiszitär legitimierte Diktatur, die sich am Ausnahmezustand bewährt.
Das Argument war in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Vor allem, weil es ein ganz spezifisches Problem des im Kaiserreich entwickelten deutschen Parlamentarismus für ein allgemeines ausgab. Gerade der Reichstag des Kaiserreichs war aus vielen Gründen gezwungen, sich vor allem mit der Beratung von Gesetzgebungsprojekten zu profilieren: Er hatte wenig Zugriff auf die kaiserliche Regierung, die ihrerseits zunehmend auf plebiszitäre Techniken der Legitimation setzte.
Gerade die Verfassungsprobleme des Kaiserreichs illustrierten, was Schmitt für einen Defekt der Weimarer Republik erklärte: den Gegensatz von Parlamentarismus, Liberalismus, Diskussion und Gesetzgebung auf der einen und von Diktatur, Bürokratie, Masse und Plebiszit auf der anderen Seite. Wem die parlamentarische Herrschaft der Kriegspremiers David Lloyd George und Georges Clemenceau oder die Rolle der Assemblée Nationale in den Krisen der frühen 1920er Jahre statt des Reichstags vor Augen gestanden hätte, der hätte die Lage des Parlamentarismus gewiss schon 1923 anders bewertet; auch die » geistesgeschichtliche«.
Gleichwohl ist Schmitts Deutung in der politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts recht einflussreich gewesen; und zwar sowohl in der Kritik wie auch in der Apologie des Parlamentarismus. Die vulgäre Form der rechten Kritik (»Schwatzbude«) hatte sich am 23. März 1933 jedenfalls für einige Jahrzehnte moralisch und politisch diskreditiert. Das betraf aber nicht die Kritik der inszenierten Diskussion, der Abdichtung des Status quo gegen notwendige Veränderungen durch das vermeintliche Schauspiel des Parteienwettbewerbs, in dem die organisierten Interessen Regie führen. Bis zur Letzten Generation sind die Deutungsmuster dieser Kritik recht stabil. Auch ein großer Teil der Apologie des Parlamentarismus erblickt sein Prinzip in vernünftiger öffentlicher Diskussion von Gründen – und ist dann zwangsläufig von der Realität enttäuscht, in der es statt um Wahrheit und Diskussion um Herrschaft, Regierung und Opposition geht.
Verfassungsrechtlich funktionierte das ganze Deutungsschema Carl Schmitts für die Bundesrepublik nie so recht, schließlich litt ihr parlamentarisches System kaum noch unter den alten Schwächen: Es gab nun parlamentarisch verantwortliche Koalitionsregierungen, mehrheitsfähige Parteien, politikfähige Fraktionen und einen parteipolitisch und das hieß eben auch parlamentarisch stärker mediatisierten Korporatismus.
Das Recht auf Entschleunigung
Pünktlich zum hundertsten Geburtstag von Schmitts Deutung hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen vom Januar und Juli 2023 den Topos der gestreckten parlamentarischen Zeit verbindlich gemacht: Es entnimmt den Grundsätzen des freien Mandats (Artikel 38 Grundgesetz), der parlamentarischen Öffentlichkeit und der Mehrheitsregel (Artikel 42 Grundgesetz) nun ein Recht auf die hinreichend lange Dauer von Gesetzgebungsverfahren.
Die Anlässe ähneln sich: Auf dem Höhepunkt ihrer inneren Konflikte hatte die Große Koalition kurz vor der parlamentarischen Sommerpause 2018 und im medialen Schutz der beginnenden Ferien in einem rasanten Gesetzgebungsverfahren die staatliche Obergrenze der Parteienfinanzierung deutlich angehoben. Zwischen der Ankündigung des Gesetzentwurfs über die erste Lesung, die Anhörung von Sachverständigen im Ausschuss und die Beschlussempfehlung bis zur zweiten und dritten Lesung lagen ganze zehn Tage.