Heft 881, Oktober 2022

Reise nach Pomurien

von Leander Steinkopf

Ich war über Wien mit dem alten Mercedes gekommen, der braucht seine Pausen, deshalb war ich spät dran. Der Schinkenpalast hatte eigentlich Ruhetag, hatte nur für uns geöffnet, deswegen fand ich sie gleich, verloren in einem Gastraum ohne Gäste, rustikal und riesig. Alle vier saßen schon am Tisch und redeten, schlechtes Englisch mit vier verschiedenen Akzenten. Sie sprachen einander nicht mit Namen an, sondern sagten Germany, Italy, Czech zueinander, so dass auch ich selbst mich ab dem dritten Handschlag Bavaria nannte. Der Fahrer stellte sich als Fahrer vor, und mein letzter Handschlag galt einer jungen Frau, die sich im Gespräch zurückhielt. Ich nannte mich Bavaria, und sie gab mir auf Deutsch zur Antwort: Ich bin Alina. Da saßen also Italien, Tschechien, der Fahrer, Alina und ich.

Dann wurde der Schinken serviert, gepökelt, geräuchert, luftgetrocknet oder gekocht und in Schmalz eingelegt, in hauchdünne Scheiben geschnitten und in Röschen auf dem Teller angerichtet, lauter Blumen aus Fleisch. Als Beilage stand eine Schüssel mit kleinen gebackenen Kartoffeln mit Kürbiskernöl auf dem Tisch. Ich schaute immer wieder zur Italienerin hinüber, irgendwie kümmerte es mich, ob ihr das Essen auch schmeckt. Sie war sehr ernst bei der Sache und schrieb zwischendrin gehässig-gerade Zeilen in ihr unliniertes Notizbuch.

Alina aß gar nichts von ihrem Schinken, sie pikste nur Kartoffeln aus der großen Schüssel. Jeder fragte einmal nach, und jedem antwortete sie, dass sie Veganerin sei. Und wenn man ihr dann Mitleid bekundete, dass so ein Schinkenpalast sicher nicht der richtige Ort für sie sei, schüttelte sie den Kopf und versicherte, dass die Kartoffeln ganz hervorragend, ja, außergewöhnlich seien. Und so probierten alle am Tisch immer neugieriger diese Kartoffeln. Als der Wirt kam und fragte, ob wir noch etwas Nachschub bräuchten, noch etwas Schinken, schüttelten alle am Tisch den Kopf. Aber Kartoffeln, sagte Tschechien, eine große Schüssel Kartoffeln wünsche man noch. Der Wirt wandte schnell sein überraschtes Gesicht ab und ging zurück in die Küche. Die Kartoffeln brachte dann ein Kellner. Erst zum Abschied kam der Wirt wieder an den Tisch und fragte, ob wir zufrieden gewesen seien. Und alle bedankten sich artig und lobten besonders die Kartoffeln. Dabei war der Schinken eigentlich hervorragend gewesen, sein Fett sanft wie Butter, irgend so etwas würde ich in meinem Artikel schreiben.

Am späten Abend saß ich noch mit Alina an einem Tisch draußen vor unserer Unterkunft, einer Lehmhütte mit Reetdach, die zu einem Komplex von zehn solcher Lehmhütten gehörte, die man um einen künstlichen See und eine alte Scheune errichtet und »Pannonisches Dorf« genannt hatte. Wir tranken einen Zweigelt, den ich während einer Pause abseits der Autobahn gekauft hatte. Alina erzählte, dass sie gerade das Volontariat bei der Frankfurter Zeitung mache, drei Monate im Politikteil, drei Monate Wirtschaft, drei Monate in jeder Redaktion und eben auch im Reiseteil. Sie wisse überhaupt nicht, wie das gehe, Reiseartikel. Ich lächelte und überlegte kurz, ob ich es ihr erklären sollte, aber ich fürchtete, dass sie dann den Respekt vor mir verlieren würde. Ich hätte ihr sagen können, dass die Reiseseiten die meistgelesenen in einer Zeitung sind, dass die Leute sie lesen, um sich wohlzufühlen, kurz wegzuträumen. Kritisch berichten kann man über die Ratten in New York oder die erhöhten Preise für den Skipass in Kitzbühel, aber ansonsten schwärmt man von Schinken und romantischen Reetdächern. Ich mache das seit zwanzig Jahren, sagte ich nur, auch wenn dreißig ehrlicher gewesen wäre. Und ich fügte hinzu, dass ich in Aserbaidschan gewesen war, in Albanien, Weißrussland, Nordzypern und noch an vielen Orten mehr. Spannend nannte sie das, schließlich reisten die meisten nur nach Amerika und Australien, nach Rom und Paris.

Tatsächlich wäre ich auch gerne mal nach Neuseeland oder New York geflogen, nur waren diese Pressereisen das Jagdgebiet der Festangestellten. Für mich Freien blieben nur die Angebote, die sie in der Ablage ließen, Ziele, die unbekannt, unterentwickelt oder gefährlich schienen. Einmal durfte ich auf ein teures Kreuzfahrtschiff, aber nur zum Mittagessen, dann musste ich wieder von Bord. Eigentlich möchte sie über Politik berichten, sagte Alina. Ich sagte ihr nicht, dass ich früher auch vorgehabt hatte, investigativer Journalist zu sein, und dass ich mich nie wirklich dagegen entschieden, dass nur eines zum anderen geführt hatte und ich irgendwann nur noch diese Verkaufstouren bei Vollverpflegung machte.

Reisejournalist sei so ein schöner Beruf, log ich, man lerne die Welt kennen. Aber eigentlich habe ich nie ein Land erlebt, sondern immer nur die Blase, in der man durch eine fremde Region geführt wird, deren Haut nur alles Schöne, Gute, Leckere durchdringen soll und bloß nicht der stumpfe Alltag der Einheimischen. Und diese Blase ist überall auf der Welt gleich. Gute Hotels, drei Mahlzeiten am Tag und dazwischen Verkostungen, reichlich Alkohol und ein dichtes Programm, damit man sich nicht unbeaufsichtigt auf den Weg macht. Wir hatten unsere Flasche ausgetrunken, und ich wollte noch eine zweite öffnen, aber Alina sagte, dass sie ins Bett gehe.

Auf dem Zimmer nahm ich mir aus der Minibar eine Dose Bier und ein Fläschchen Pflaumenschnaps, der schmeckte gut und stark und war wohl hausgebrannt, jedenfalls konnte ich keinen Alkoholgehalt verzeichnet finden. Bei jedem Aufwachen dachte ich an früher, als der Beruf noch besser war, als ich mir den Mercedes leisten konnte, den ich heute noch fahre. Damals gab es in der Redaktion eine Dartscheibe mit einem dämlichen Gesicht darauf, und darunter stand: Der Leser. Daran reagierten wir uns ab, wenn es Beschwerden gab. Als die Auflage runterging, wurde mir erst angeboten, mich statt meiner festen Stelle selbständig zu machen bei fixem Honorar, dann schließlich die freie Mitarbeit. Die Kontrolle hatten überall Betriebswirte und Berater übernommen, die meinten, man könne alle Produkte auf dieselbe Art verkaufen. Die Dartscheibe wurde abgehängt, stattdessen haben sie Aufkleber gedruckt mit der Aufschrift: Liebt den Leser!

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