Heft 857, Oktober 2020

Ungarn – Land der offenen Arme

von Richard Schuberth

Erst Ende des 18. Jahrhunderts kam der Paprika in die pannonische Tiefebene. Und kann dort auf eine längere Geschichte zurückblicken als die Idee von einem einheitlichen ungarischen Volk. Viktor Orbán hat der jungen Tradition des Magyaro-Chauvinismus zu einer neuen Blüte verholfen. Diese wohl fremdenfeindlichste Ideologie Europas muss sich, weil ihr keine andere Herkunft zur Verfügung steht, auf die fremdenfreundlichsten Regierungen ihrer Zeit berufen, die des mittelalterlichen Ungarn.

Vorausgeschickt sei, dass die Magyaren ab dem 9. Jahrhundert nicht als barbarischer Sturm über die spärlich bevölkerte Tiefebene hereinbrachen, sondern eher allmählich einsickerten und wie ausnahmslos alle Reiternomadenkontingente aus dem Osten kein einheitliches Volk, sondern ein Interessensverband heterogener Gruppen waren. Im äußerst dünn besiedelten Alföld, der Tiefebene, trafen sie auf langobardische, gotische, gepidische, awarische, slawische sowie kumanische und petschenegische Reste vorangegangener Völkerwanderungen.

Nach ihrer Christianisierung und der Zentralisierung ihrer Macht kämpften die magyarischen Könige eifrig um ihre Anerkennung im Klub der europäischen Mächte und erwiesen sich als wahrliche Streber im zivilisatorischen Aufholprozess – von marodierenden Reiternomaden zu Garanten staatlicher Stabilität, Förderern von Kultur und Stiftern von Kirchen und Bildungseinrichtungen. Kein Grund, die feudalistische Gewaltherrschaft zu romantisieren, aber auch keiner, ihre für diese Zeit unzweifelhaften Errungenschaften zu leugnen.

Ungarn im Mittelalter – ein mitteleuropäisches Erfolgsmodell

Nach byzantinischem Vorbild hinterließ Stephan I. (997–1038), der erste König Ungarns, der Welt und seinem Sohn Imre die Unterweisung De institutione morum ad Emericum ducem. Darin gibt er diesem auch den Rat, so viele »Ausländer« wie möglich ins Land zu lassen, da »Gäste alle Reiche schmücken und den Hof erhöhen«. Er läutete eine großzügige Ansiedlungspolitik ein, die das ganze Mittelalter hindurch bis weit in die Neuzeit für das ungarische Königreich charakteristisch sein sollte.

Zunächst musste Stephan in einem Vorgriff auf spätere absolutistische Tendenzen seine Macht zentralisieren und die aufsässigen ungarischen Stammesführer unterwerfen und christianisieren. Er erkannte die ökonomischen Chancen der geopolitischen Lage seines Landes und dass er mit dem karolingischen Reich, den italienischen Stadtstaaten und den diversen Herzogtümern nur mithalten konnte, wenn er Spezialisten für Landwirtschaft, Handwerk, Bergbau und Handel anlockte. Dabei wurden im Gegensatz zu heute keine Unterschiede gemacht zwischen qualifizierten Zuwanderern aus westlichen Ländern und kulturell abgewerteten Migranten aus Süden und Osten.

Als Pull-Faktoren für die Einwanderer bewährten sich Landschenkungen oder Erbpacht, persönliche Freiheit, Selbstverwaltungsrecht und Eigengerichtsbarkeit, Steuervergünstigungen, Eigenkirchlichkeit oder religiöse Toleranz. Stephans Politik führte aber auch die reiternomadischen Traditionen der Kooperation mit Hilfsvölkern und Grenzwächtern fort, die nachdringende Gruppen aus Osten und Süden, zum Beispiel die Petschenegen und Kumanen, später die magyarophonen Szekler sowie Slawen und Walachen durch Privilegien als Wehrbauern und irreguläre Milizen an sich band. Auch jüdische und mohammedanische Händler wurden eingeladen.

König Géza II. (1141–1162) intensivierte diese Anwerbungspolitik und setzte den eigentlichen Anfang der Präsenz Deutschsprachiger in Pannonien. Immigranten aus dem Rheinland, aus Flandern, Luxemburg, Thüringen, Niedersachsen und anderen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches wurden in der Gegend der Zips am Fuße der Hohen Tatra und in Siebenbürgen angesiedelt. Sie wurden als Zipser oder Siebenbürger Sachsen bekannt.

Dieses Ethnonym hat nichts mit einer tatsächlichen sächsischen Herkunft zu tun, sondern wurde den deutschsprachigen Siedlern von der ungarischen Hofkanzlei gegeben – »Saxones« – und steht in direktem Zusammenhang mit dem im Mittelalter obligatorischen sächsischen Bergrecht, dessen Privilegien mit diesem Kollektivnamen immer in Erinnerung bleiben sollten. Sachsen geriet im gesamten Osten und Südosten Europas zum Synonym für Bergleute und ihre Sonderrechte. Das illustriert die Flexibilität von Ethnonymen und ihre oftmalige Verquickung mit sozialen und professionellen Kategorien. Deutsche oder flämische Bergleute wurden zu »Sachsen«, spätere deutsche Migranten zu »Schwaben«.

Das bis dahin herrschende Grenzwächtersystem wurde von den Mongoleneinfällen im 13. Jahrhundert hinweggefegt, ein beträchtlicher Teil der pannonischen Bevölkerung ermordet, vertrieben oder versklavt. Der umsichtige König Béla IV. (1235–1270) nahm den Wiederaufbau des Landes in Angriff und die Ansiedlungspolitik wieder auf, lud Immigranten aus Frankreich, Wallonien und dem Rheinland ein, integrierte die vor den Mongolen geflüchteten Nomadenstämme der Kumanen und Jazygen. In seiner Regentschaft siedelten sich Wallachen (die späteren Rumänen) in größerer Zahl in Siebenbürgen an. Ruthenen, mährische Hannaken, Slowaken und Polen südlich des nördlichen Karpathenbogens waren als tüchtige Bauern und Steuerzahler geschätzt.

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