Heft 888, Mai 2023

Warum Lueger fallen muss

von Richard Schuberth

2020 war das Jahr der attackierten Statuen. Im Zuge eines neuen identitätspolitischen Antirassismus entdeckten Aktivisten die Schattenseiten der Heroen auf den Sockeln westlicher Städte. Das führte zu Szenen, wie sie der zeitgeschichtlichen Erinnerung aus Osteuropa nach dem Untergang der Sowjetunion oder aus dem Irak nach der US-Invasion geläufig sind: In Bristol brachten wütende Demonstranten die Statue des Philanthropen und Sklavenhändlers Edward Colston (1636 bis 1721) zu Fall und warfen sie ins Hafenbecken – der Auftakt zu europaweiten Appellen, auch unzähligen weiteren Rassisten und Kolonialisten aus Stein und Bronze den Garaus zu machen. Dem stolzen Habitus der Statue des ebenso populären wie antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger (1844 bis 1910) konnten diese Anfechtungen nichts anhaben. Pikanterweise schützt ihn nicht Gott, auf den er sich stets berief, sondern seine einst größte Feindin, die Wiener Sozialdemokratie.

Der sichtbare Teil des Mycels

Heftige Diskussionen über den neuen Ikonoklasmus waberten durch die Feuilletons. Auffallend war, dass die Aktivisten oft das Richtige mit falschen, ihre Gegner das Falsche mit richtigen Argumenten behaupteten. Erstere hatten vom Poststrukturalismus gelernt, die Welt der Zeichen, Symbole und Repräsentanzen der Wirkmacht der materiellen Welt für ebenbürtig zu halten. Jedoch verschwand diese immer mehr aus ihrem Fokus, weshalb sie dem Irrtum anhingen, mit der Abschaffung der Symbole würden auch die Missstände aus der Welt geschafft. Aber die sichtbaren Pilze von der Waldoberfläche zu rasieren lässt das Mycelgeflecht unter der Erde nicht verdorren, sondern macht die Verpilzung bloß unsichtbar. Jene Denkmäler sind eben auch stets Male der einst dominanten Ideologien.

Der bilderstürmende Antirassismus indes erweist sich als ahistorisch, berücksichtigt doch sein bloß moralisches Raster nicht die Ambivalenzen und den zeitlichen Kontext der zu stürzenden Persönlichkeiten. Immanuel Kant, den Autor des Ewigen Friedens, als Rassisten zu verteufeln, ohne die Beschränkungen seiner Zeit mitzudenken, und Winston Churchill als den hartnäckigen Kolonialisten, der er gewiss war, dabei aber seine Rolle als führender Widersacher Hitlers zu bagatellisieren, trägt die problematische Tendenz in sich, hinter dem Slogan der »multidirektionalen Erinnerung« Aufklärung als westlichen Herrschaftsdiskurs und Antifaschismus als eurozentrische Erzählung zu delegitimieren.

Liberale und konservative Kritiker führen gegen die Denkmalstürmer gerne das Argument des historischen Kontexts ins Feld und versuchen damit nur zu oft die versteckten und offenen Kontinuitäten eines solchen Kontexts zu verwischen. Ich plädiere dafür, jeden Einzelfall gesondert zu betrachten, also zu diskutieren, wann der Denkmalsturm zu Recht geschieht, wann eine erläuternde Plakette oder eine künstlerische Intervention lehrreicher wären und wann der Mist einfach weggehört. Der Mist auf dem Wiener Karl-Lueger-Platz samt dem Namen des Platzes zum Beispiel gehört auf jeden Fall weg.

Nun ist der Ruf nach der Demontage des Denkmals ebenso wenig neu wie dessen Nichtbeachtung. Keine der bislang erfolgten Evaluierungen kommt in ihrem Sachgehalt so nahe an die Wahrheit heran wie das Graffito, das beständig den Sockel ziert: Schande.

Trittbrettfahrer der Modernisierung

Die Verteidiger des Denkmals, wozu in Wien auch die sozialdemokratische Stadtregierung zählt, wissen genau, wessen Andenken sie schützen, und rechtfertigen das mit der großen Popularität, die Lueger, Bürgermeister Wiens von 1897 bis 1910, zu Lebenszeiten genoss, sowie mit seinen kommunalen Verdiensten. Auch der Holocaust-Überlebende und Antifaschist Serge Klarsfeld wimmelte letztes Jahr eine Unterstützungserklärung zur Demontage des Denkmals mit dem Verweis auf dessen positive Initiativen ab.

Das entspricht der allgemeinen Auffassung, die durch Repetition um nichts richtiger wird. Ohne die beachtliche Initiative des Karl Lueger als Bauherr und Modernisierer schmälern zu wollen, erwies er sich doch als nicht mehr, wenn auch nicht weniger denn als Manager der Fortschrittsschübe seiner Zeit. Elektrifizierung der Straßenbahnen lag im internationalen Trend, lange vor Wien fuhren in Prag, Sarajevo und Lemberg Garnituren mit Oberleitung. Desgleichen die Errichtung von Altenpflegeheimen und Spitälern. Und entgegen der landläufigen Überzeugung, Wien verdanke das »gute Wasser« dem Lueger, hat dieser mit der II. Wiener Hochquellwasserleitung bloß die wahre Pionierleistung von 1873 ergänzt, die Wien dem liberalen Bürgermeister Cajetan Felder, mehr noch dessen wissenschaftlichem Berater, Eduard Suess, verdankt.

Suess’ Präsidentschaft der Akademie der Wissenschaften deckte sich zeitlich mit Luegers Amtszeit, zu welcher der verdiente Geologe in aller Welt Ehrungen erhielt. Außer in seiner Heimatstadt. Als Jude, Liberaler und Wissenschaftler verkörperte Suess eine dreifache Zielscheibe für Luegers Partei, die Christlichsozialen. Niemals zuvor, und bis zu den Nazis auch danach, wogte eine solche Intellektuellenfeindlichkeit durch Wien wie zu Zeiten Luegers. Geschürt wurde sie vom angeblichen Modernisierer selbst, der in seinen Reden dafür sorgte, dass »Professor« zum beliebten Schimpfwort wurde.

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