Von Tieren und Tafeln
Ein Besuch im Berliner Zoo von Burkhard MüllerEin Besuch im Berliner Zoo
Elefant. Wer in den Berliner Zoo will, tritt ein durchs Elefantentor. Zwei lebensgroße Elefanten flankieren den Eingang, knieend, aus Sandstein oder vielleicht auch Zement, es lässt sich schwer entscheiden. Über ihnen spannt sich ein lackrot akzentuierter Torbogen, im Schwung eines geträumten Orients. Ein markanter, ein guter Eingang.
Gut sind Institutionen, die Wert auf ihren Eingang legen. Nicht nur findet man seinen Weg hinein so leicht, wie man sollte. Man fühlt sich auch willkommen geheißen und erhält das Versprechen, dass man, indem man das Draußen gegen das Drinnen vertauscht, eine Steigerung des eigenen Daseins erfahren wird. Gedrängter, bunter, ernster und heiterer wird es werden als das gewöhnliche Leben.
Das Elefantentor stammt noch aus einer Zeit, wo es selbstverständlich war, Eingänge in solcher Weise zu gestalten: als Schlüsselstelle der Architektur, wo sich der Stoffwechsel eines Baus oder Gartens mit der Welt vollzieht, der lebenserhaltende Austausch der Sphären. Ein Portal, das mehr ist als bloßer Durchweg, lädt den Besucher ein, aber ermahnt ihn auch: Du bist hier Gast, mit allem, was Gastrecht und Gästepflicht mit sich bringen. Gast und Gastgeber, heute auf zwei Rollen verteilt, waren ursprünglich eins: Das ist der Doppelsinn des lateinischen Wortes »hospes«. Erst die Begegnung macht sie beide zu dem, was sie sind, und erhöht sie; ihr gemeinsamer Ort ist die Schwelle, die darum nicht festlich genug markiert werden kann.
Sifaka. Zoo, Tierpark und Tiergarten gelten gemeinhin als Synonyme. Wer aber meint, das wäre alles mehr oder weniger dasselbe, der wird in Berlin Überraschungen erleben. Es geht damit los, dass er am falschen Ort aus der S-Bahn steigt, denn »Tiergarten« und »Zoo«, das sind verschiedene Bahnhöfe, wenn auch relativ nahe beieinander. Am anderen Ende der Stadt aber liegt der Tierpark.
Als Berlin geteilt wurde, brauchte natürlich auch der Osten ein Pendant, genauso wie einen eigenen Flughafen, während umgekehrt der Westen mit Oper, Rathaus und Universität nachziehen musste; von all diesen Dingen gab (und gibt) es in Berlin immer mindestens zwei Exemplare. In dieser Liga der zentralen großstädtischen Einrichtungen spielt auch der Zoologische Garten mit; ohne ihn darf eine Metropole nicht als komplett gelten, schon gar nicht, wenn es sich um den Brückenkopf westlicher Freiheit inmitten von Feindesland beziehungsweise die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik handelt.
Der Tierpark (Ost) ist größer als der Zoo (West), aber das bezieht sich allein auf die Fläche. Am Rand gelegen, hat der Tierpark mehr Platz. Doch besitzt er geringere Attraktivität und zählt deutlich weniger Besucher. Das Verhältnis der beiden Gärten entsprach dem der beiden Halbstädte: Der zentral gelegene Zoo gewinnt seine Eigenart durch die Enge der Umfriedung, er stellt eine Insel in andersartiger Umgebung dar, deren Druck er von allen Seiten standhalten muss; er war sozusagen ein West-Berlin innerhalb West-Berlins. Der Tierpark hingegen ist kontinuierlich mit seinem Umland verbunden, was ihm Raum verschafft; dafür verliert sich seine Struktur in der Weite.
Dass ich den Tierpark überhaupt kenne, verdanke ich einer Nichte, die hier vor einiger Zeit ihr freiwilliges ökologisches Jahr ableistete und einen Rundgang organisierte. So kam ich auch in Bereiche hinein, die für Besucher normalerweise gesperrt sind, die Aufzuchtstation für Chamäleons zum Beispiel; oder ins Gehege der Guanakos zur Fütterungszeit (die Energie der Guanakos bei dieser Gelegenheit wirkt beängstigend, sie rennen alles über den Haufen, was sich zwischen sie und ihren Trog stellt). Und wie leicht so ein Sifaka wiegt, wenn er auf einem herumturnt – alles bloß Pelz und keine Substanz an die-sem madagassischen Lemuren. Solch eine privilegierte Sonderführung ginge im Berliner Zoo wohl eher nicht, weil derartige Bevorzugung unter den dortigen Raumbedingungen den anderen Besuchern auffallen und ihren Neid erregen müsste. Anders als im Tierpark kann im Zoo immer jeder alles sehen, was los ist.
Hirsch. Gar keine Tiere, das heißt keine Tiere in menschlicher Obhut, gibt es hingegen heute im Berliner Tiergarten. Er ist ein Stadtviertel der gehobenen Kategorie mit viel Grün. Das Grün stammt noch von den Zeiten her, wo er den brandenburgischen Kurfürsten als Wildgatter diente: Hier wurden Hirsche und anderes Wild gehalten und gejagt, ein Vorrecht der Aristokraten. Sehr weidgerecht im heutigen Sinn ging es dabei nicht zu. Da das Wild die Einzäunung nicht verlassen konnte, war ihm die rettende Flucht verwehrt. Es wurde weniger zur Strecke gebracht als abgeknallt. Auch ließ man alle Tätigkeiten mit Ausnahme des eigentlichen Tötungsvorgangs, von der Hege bis zum Treiben vor die Flinte, vom Personal erledigen; dem Fürsten und seinen illustren Gästen kam der Augenblick des Schusses zu. Was heute jeder Jäger in seiner neuzeitlich-ganzheitlichen Berufsehre als unweidmännisch von sich weisen würde, den Fürsten war es gerade recht: Nur so erreichten sie die unglaubliche Zahl an Trophäen, Tausende von ihnen, und nur darauf kam es an.
Im historischen Übergang vom Tiergarten zum Zoologischen Garten hatte die Menagerie ihren Ort. Hier hielt man, erst eher nebenbei, solche Tiere, die man nicht in Massen schießen, sondern im Einzelnen zeigen wollte, weil sie den höfischen Glanz nicht als Leichen, sondern lebendig erhöhten; sei es, weil man sie allegorisch mit den hochherzigen Eigenschaften des Monarchen verband, wie bei Löwe und Adler, sei es, dass sie als Exoten Erstaunen wecken sollten gleich einem kostbaren Gewand. Wo das Volk sie zu sehen bekam, musste man es fast mit Gewalt daran hindern, dass es sie wie Kriegsgefangene behandelte, piesackte und mit Steinen bewarf. Denn hatte man über diese Exoten, da sie hergebracht werden konnten, nicht einen Sieg errungen? Es waren Abzeichen des Triumphs über die Natur, zu einer Zeit, wo Natur noch nicht als bedroht, sondern als bedrohlich erschien.
Weißnacken-Fasantaube. Die Besucher der Menagerie gafften. Das Gaffen, oder sagen wir neutraler das Schauen, tritt bei den Rechtfertigungsstrategien der Zoos (denn rechtfertigen müssen sie sich heute) zurück hinter dem Bildungsauftrag. Es ist nicht leicht zu sagen, worin genau er bestünde. Das Fernsehen ist voll von Filmen, die Tiere bei einer Vielfalt von Aktivitäten zeigen – beim Beutereißen, beim Wandern, bei der Paarung –, die das Publikum im Zoo so gut wie nie beobachten kann und die den Blick in eine Intimität ge-statten, wie der Zoo sie nur in Ausnahmefällen zulässt. Diese Filme wirken weit belehrender, als der Zoo es je könnte. Dazu ist an den Gehegen und Käfigen eine Fülle von Schrifttafeln angebracht, die so ziemlich alles erklären, was an diesem Tier Beachtung verdient, so dass man es selbst kaum mehr zu sehen braucht, um Bescheid zu wissen. Das Tier wird zur Fußnote seiner selbst.
Es erinnert an die großen Rock- und Popkonzerte der Gegenwart, wo Zigtausende zusammenströmen und hohe Eintrittspreise zahlen, um Taylor Swift live zu erleben – aber was sie wirklich zu sehen bekommen, das ist, neben der playmobilhaft kleinen Figur der Sängerin selbst, vor allem ihre riesige Projektion auf einer Leinwand. Wo es solch eine Leinwand gibt, da blickt man fast nur noch auf sie. Und trotzdem verlieren die Livekonzerte nichts von ihrer Anziehungskraft, im Gegenteil: Das reale Menschlein, das da vorne singt und tanzt, dient als Unterpfand des Authentischen, als Garant von Präsenz: obwohl das Missverhältnis der beiden, von Präsenz und Projektion, erbarmenswürdig ist. So auch dienen die realen Tiere im Zoo den Besuchern als Bildungs- und Erlebnisunterpfänder.
Doch möchte ich diese erklärenden und erläuternden Tafeln nicht missen. Man könnte sagen, es sei der Pedant in mir, der diese Schilder so ausgiebig zur Kenntnis nimmt, ausgiebiger vielleicht als das zugehörige Tier selbst. Besonders gilt das von den vielen Vögeln, die immer zu mehreren Spezies auf einmal gehalten werden. Sie zu finden und zu erkennen wird, besonders in den offenen Hallen, wo sie wenigstens teilweise herumfliegen können wie in freier Natur, zu einer Schatzsuche – oder genauer, zu einer Art Memory-Spiel: Karte Nummer eins halte ich in der Hand, wenn ich die Tafeln lese; das Match, die dazu passende Karte Nummer zwei treibt sich irgendwo im Gebüsch herum; und die will ich aufspüren, um das Gefühl zu haben: Passt!
Ja, ein Spiel ist es, eines, bei dem gewiss auch das Kontroll- und Ordnungsbedürfnis seinen Anteil hat. Die Fast-Freiheit all dieser bunten Vögel in Glashäusern, die dem Auge mit ihrem dichten Grün die räumliche Begrenzung verschleiern, hat etwas vom Paradies. War nicht auch das Paradies ein solcher Garten, dessen Umfriedung den Insassen unfühlbar blieb? Das war eine heimliche Bedingung seines Glücks.
Zum Paradies gehört die Vielfalt. Sie bietet sich dem Blick nicht ohne Weiteres dar. Selbst bei der hohen Besatzdichte lässt sich zunächst einmal nur ausmachen, dass hier etwas im Blattwerk raschelt. Man muss wissen, wonach man Ausschau hält, sonst gibt die Vielfalt sich nicht preis. Zehntausend Spezies von Vögeln existieren in der Welt (und wenn man den »Splittern« folgt, die momentan mal wieder die Oberhand über die »Lumper« zu haben scheinen, sogar elftausend). Die Naturverehrer aus der Stadt, die die Vielfalt der Lebensformen als ein höchstes Gut beschwören, kennen, wie Umfragen ergeben, im Schnitt sieben heimische Arten; und wie viele davon sie im Gelände auch erkennen, sei dahingestellt. Wenn sich die beschworene Vielfalt vom leeren Abstraktum in Anschauung verwandeln soll, braucht man die Tafel. Sie bietet nicht nur das zur Ruhe gebrachte Bild des Vogels (die Vögel selbst neigen ja immer zum Entwischen), sondern nennt beim Namen.
Diese Namen sind so kaleidoskopisch wie die Benannten selbst. Ja, das Kaleidoskop scheint die angemessene Metapher für die Art, wie hier Benennung geschieht: Aus einer begrenzten Zahl von Elementen geht, dank der Möglichkeiten des Kompositums, des zusammengesetzten deutschen Hauptworts, eine nahezu unbegrenzte Fülle von Kombinationen hervor. Das ältere Deutsch hatte nur wenige Namen für Tiere; vergeblich wird man bei Walther von der Vogelweide nach Anzeichen suchen, dass er Kohl- und Blaumeise auseinanderkannte oder auch bloß eine Meise von einem Fink unterschied, obwohl diese ziemlich deutlichen Wesen täglich um ihn herumflatterten, selbst im Winter. Um 1700 kannte die Naturgeschichte vierhundert Arten von Tieren. Um 1800 waren es bereits viertausend Arten – von Schlupfwespen. Woher die Namen für sie alle nehmen?
Das Ergebnis klingt so: Malaienstar – Weißbürzelschama – Weißnacken-Fasantaube (diese als Einzige mit Bindestrich) – Chinesischer Sonnenvogel (dieser mit dem Attribuierungsmittel des Adjektivs) – Malaienente – Straußwachtel; sie finden sich sämtlich auf einer einzigen Tafel und bilden miteinander eine Wohngemeinschaft, die ihnen die Zooleitung zugewiesen hat. Andernorts hat man die Bartlett-Dolchstichtaube, den Palawan-Pfaufasan, den Blauscheitelmotmot, den Fratzenkuckuck und den Eulenschwalm zusammengebracht, dazu den Kleinkantschil, bei dem es sich um einen Vertreter aus der Familie der Hirschferkel handelt.