Von wegen Anthropozän
von Burkhard MüllerNoch in diesem Jahr dürfte es die International Commission on Stratigraphy amtlich machen: Wir leben in einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän. Bisher hatten wir uns im Holozän befunden, jener Ära, die am Ende der letzten Eiszeit begann, vor rund 12 000 Jahren, und in der sich alles abgespielt hat, was als Menschheitsgeschichte im engeren Sinn gelten kann, die Sesshaftwerdung, die Städtegründung, die Erfindung der Landwirtschaft und der Schrift: alles, was irgend den Anspruch erheben darf, Kultur zu sein.
Das Holozän war aber vor allem eine geologische Epoche: In dieser Zeit schmolzen die Gletscher, die mehr oder weniger das nördliche Viertel der Erdkugel bedeckt hatten, und stieg zugleich das Meer um mehr als hundert Meter an, ungeheure Tiefländer verschlingend; die bislang grünende Sahara wurde zur Wüste, und dafür verwandelte sich Europa, das bis dahin zum größten Teil unbewohnbar gewesen war, in jene klimatisch bevorzugte Region, den Garten der Welt, der es bis heute geblieben ist. Die Bilanz der für Pflanze, Tier und Mensch nutzbaren Fläche war also ungefähr ausgeglichen – eine Feststellung, die jedoch davon absieht, wie katastrophisch dieser Tausch ablief. Es war so etwas wie ein gigantischer Stuhlwalzer, bei dem zwar zum Schluss alle, die noch übrig waren, wieder auf einem Stuhl saßen, aber auf einem anderen als zuvor.
Auch schon die Proklamation des Holozän war eigentlich eine perspektivische Täuschung gewesen; eine verzeihliche, weil Dinge, die dicht vor unserer Nase liegen, uns in ihrer scheinbaren Größe mehr beschäftigen als das scheinbar Kleinere im Hintergrund. Ein hochgehaltener Daumen genügt, um die Sonne abzudecken. Das sagt viel über unsere Wahrnehmung und nichts über die Sonne. Die letzte Eiszeit und ihr gegenwärtiges Nachspiel stellen nur den kleinen Abschnitt einer sehr viel längeren Ära dar, des Eiszeitalters überhaupt, des Pleistozän, das vor knapp zwei Millionen Jahren begann und gekennzeichnet war durch den Wechsel der immer wieder in den Kältemaxima vorstoßenden und in den Wärmeintervallen sich zurückziehenden Gletscher. Was wir gerade jetzt haben und was dann hinter uns liegt, ist nur die bislang letzte Scheibe einer Salami, von der schon viele Scheiben abgeschnitten worden sind und wahrscheinlich auch künftig noch werden.
Indem die Wissenschaft vom Holozän redet, verkauft sie im Grunde die Scheibe als Wurst. Wenn sich gegen diesen offensichtlichen Tatbestand kaum Widerstand geregt hat, dann liegt das einerseits an einem fortdauernden Erstaunen und Erschrecken über die spät, erst im 19. Jahrhundert, erkannte Gewaltsamkeit der Vorgänge; zum anderen an der Schwierigkeit, mit der Tiefe der geologischen Zeit in ein echtes Verhältnis zu treten. Es hieß, das kurzatmige menschliche Vorstellungsvermögen zu schonen, wenn man auf solche Weise das Jüngste gegenüber dem Älteren privilegiert. Im Übrigen spricht für das Holozän als Epochenbegriff die ganz praktische Überlegung, dass die gewaltigen Umräumaktionen, die es vorgenommen hat, unsere heutigen Landschaften und Wirtschaftsräume prägen. Mitteleuropa, wie es sich uns darbietet, ist vor allem durch die glaziale Serie geprägt, die den Seen ihr Bett, den Flüssen ihren Lauf angewiesen und die Qualität der Böden bestimmt hat, von den fruchtbaren Lößflächen, gletscherfern ausgeweht, zu den fast wertlosen Schotterebenen, die gletschernah liegen geblieben sind. Natürlich haben auch schon die früheren Eisvorstöße das Land entsprechend umgestaltet, wobei jeder rücksichtslos über das Werk seines Vorgängers hinwegschrammte.
Das Holozän als Erdzeitalter auszuweisen war also schon ein Zugeständnis an die menschliche Bedingtheit und Schwäche gewesen. Weitere Zugeständnisse sollte man ihr nicht machen, das ginge allzu sehr auf Kosten der Wahrheit und der Verhältnismäßigkeit. Schon das Holozän sollten wir nur pragmatisch, nicht im kategorischen Ernst als Erdzeitalter gelten lassen. Dem Anthropozän aber fehlt es vollends am Wichtigsten, der Dignität der Dauer. Denn wann hätte es angefangen? Vor zweihundert Jahren, mit den Abraumhalden der jungen Steinkohlenförderung, hätte es sozusagen hervorgespitzt, vor siebzig Jahren sich das Trittsiegel des radioaktiven Mülls zugelegt, aber seine wirklich gravierenden Auswirkungen zeigt es erst seit einem Menschenalter.
Was heute geschieht, mag einen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte darstellen; aber Menschheitsgeschichte ist nicht Erdgeschichte und ein Wendepunkt keine Wegstrecke. Das Anthropozän ist noch nicht einmal, um im Bild zu bleiben, eine Wurstscheibe; es ist ein histologischer Schnitt, so dünn, dass er fürs Mikroskop vom Licht durchdrungen werden kann.
Und selbst wenn, was sich heute ereignet, das Gesicht der Erde in noch in Jahrmillionen spürbarer Weise verändern sollte: Es bliebe vor allem ein Punkt. Das Massensterben vor 65 Millionen Jahren war gewiss eine Katastrophe, deren Folgen bis heute anhalten; doch es machte Epoche, es war keine. Nicht einmal das Äußerste an Destruktivität könnte jener hauchdünnen Zeitschicht der modernen Menschheit den Adel der Ära verleihen, der sich allein durch Alter, nicht durch Taten beglaubigt, seien sie noch so sensationell.
Möglicherweise tut die Menschheit dem Planeten ja doch noch einen Atomkrieg an, der ihn auf lange verödet, und wenn er endlich, viel später, wieder ein lebendiges Gesicht zeigt, wird es ein anderes sein, wie das Zeitalter der Säugetiere und Vögel ein anderes war, nachdem die Saurier zugrunde gegangen waren. Doch wenn ein solcher Krieg ausbleiben sollte, dann wird, wer in ein paar Millionen Jahren zu graben anfängt, kaum auf Überreste des Anthropozän stoßen und in seinen Befunden zwischen den petrifizierten Überresten eines Cro-Magnon-Menschen und Albert Einsteins nicht den mindesten Unterschied feststellen. Die radikale kulturelle Veränderung der letzten Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte würde so gut wie kein geologisches oder paläolontogisches Zeugnis hinterlassen.
Die Plastiktüten? Die werden irgendwann dann doch vergangen sein. Die Tagebaulöcher, die Versiegelung der Oberfläche durch alle möglichen Konstruktionen? Ephemerer Kleinkram, verglichen mit der alpinen Faltung, schon bald im Gelände verschwunden oder zumindest in seinem besonderen Ursprung nicht mehr erkennbar. Der radioaktive Müll? Selbst das Plutonium mit seiner 20 000-jährigen Halbwertszeit wird in 200 000 Jahren zu 99,9 Prozent zerfallen sein. Der Klimawandel? Den hat die heutige Menschheit verschuldet, gewiss; aber man wird ihn im Nachhinein nicht an einem sicheren Merkmal von all den anderen Klimawandeln unterscheiden können, die es in der Erdgeschichte gegeben hat. Das Klima ist ihr wandelbarster Faktor, in dem Maß, wie Luft sich leichter und schneller bewegt als Gestein. Es ließe sich sagen, im Klimawandel atme die Erde, bald ein, bald aus, und im Takt damit hebt und senkt sich der Meeresspiegel wie die Brust eines Schläfers. Übrigens war jeder Einzelne dieser Atemzüge, so ruhig und gleichmäßig sie sich im Nachhinein ausnehmen, für die, die es traf, eine massenvernichtende Katastrophe – nur dass es damals, im Perm, in der Kreide, den Mund nicht gab, der hätte Klage führen können.
Ich muss nun ein wenig weiter ausholen, um von Raum und Zeit zu sprechen, und hoffe, auch wenn es ein Umweg scheint, die Geduld der Lesenden nicht zu sehr zu strapazieren.
Der Raum ist kein Rätsel, wenigstens keins, das verschieden wäre von dem anderen, dass überhaupt etwas ist; denn wenn etwas ist, dann ausschließlich im Raum, anders können wir es uns nicht vorstellen. Das Rätsel ist die Zeit; sie könnte auch unterbleiben, ohne dass die Welt aufhören müsste zu existieren; sie wäre dann eben eine starre Welt. (Dass es auch eine blinde Welt wäre, weil sich in ihr kein Licht ausbreiten und es keinen Beobachter geben kann, weil alle Beobachtung sich in Zeit vollzieht, das braucht uns hier nicht zu beschäftigen.) Der Raum ist die Physik, die Zeit die Metaphysik der Welt. Während der Raum gewissermaßen naiv und direkt vorhanden ist, nämlich kraft der massiven Brocken, die sich in ihm herumtreiben, hat die Zeit eine tückischere Art von Dasein. Selbst gesichts-, gewichts-, geruch- und geschmacklos wie ein in kleinsten Dosen effektives Gift, übt sie ihre Wirkung indirekt, indem sie, was im Raum ist, verändert; sie ist nicht, sie zeitigt. Oder, wie es der österreichische Dichter Arthur Schnitzler in einem Satz zusammengefasst hat: Zeit wäre nur eine Einbildung? Aber das Altern ist real! Und wie man hinzufügen darf, der Tod auch.
Und doch gilt, wenigstens hier auf der Erde, genauso auch das Gegenteil: Zeit gab und gibt es viel, Raum dagegen sehr wenig. Die Erde hat einen Durchmesser von knapp 13 000 und einen Umfang von rund 40 000 Kilometern. Das ist schon recht wenig. Aber was uns davon offensteht, stellt nur die dünne äußerste Schicht jenes kleinen Balls dar, die in der Höhe nicht über die zehn Kilometer hinausgeht, wo unsere Flugzeuge fliegen, und in die Tiefe nicht weiter reicht als die drei Kilometer der tiefsten Bergwerke. Was darüber ist, haben die wenigsten Menschen je mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen; was darunter, keiner. Faktisch ist diese Schicht sogar noch weit dünner, für 99 Prozent der Lebensprozesse beträgt sie nicht mehr als hundert Meter: die Differenz zwischen dem Kronendach des Regenwalds und dem untersten Geschoss einer Tiefgarage. Die Erde ist nicht im Ernst eine Kugel; unter allen praktischen Gesichtspunkten stellt sie nach wie vor eine Scheibe dar, eine ganz flache Scheibe. Oder sagen wir genauer, ein Blatt Papier; denn wir müssen uns gegen den offensichtlichen Einwand im Hinblick auf die Hochgebirge wappnen. Klar steigen die Anden auf 7000 Meter und der Himalaya gar auf über acht. Doch auch bei diesen Verwerfungen gilt die Faustregel der hundert Meter, die im Bereich der Latschenkiefern rasch zu einem Zehntel und weniger schmelzen: Auch ein zerknittertes Stück Papier ist vor allem ein Stück Papier, das vom Knittern nicht dicker wird.