Heft 844, September 2019

Was bleibt? Sieben Befunde zur DDR-Literatur

von Matthias Rothe

Der DDR-Literatur-Bleibetest: Wie lesen Studierende in Österreich heute Ankunft im Alltag, Christa T. oder Der fremde Freund? Wie lese ich es, mehr als dreißig Jahre nach der ersten Lektüre und auf einem anderen Kontinent lebend, und was lässt sich dazu überhaupt sagen, in einer Vorlesung in Graz, im Sommersemester 2019? Gleicht dieser Gegenstand DDR-Literatur mittlerweile einem Gerät, dessen Gebrauchsweise vergessen ist? Mir wurde einmal ein metallisches, schweres, zangengroßes Ding in die Hand gegeben, das Markierungen, Zahlen, Striche usw. und vier Ausstülpungen aufwies – wie ich es auch drehte, es blieb ein Rätsel. Verhält es sich mit der DDR-Literatur ähnlich? Offenbar nicht. Die Studierenden lesen die Texte durchaus mit einiger Begeisterung, und auch ich bin nicht gelangweilt. Und das ist der erste Befund.

Die 1950er und 1960er Jahre: Protokolle des Scheiterns

Die Produktions- und Industrieromane der 1950er and 1960er Jahre zum Beispiel, die Euphorie bei der Brigadearbeit im Uranbergbau, in Kraftwerken aller Art oder im Chemiewerk übersetzen sich ja nicht ohne Weiteres in die postindustrielle biobewusste (westliche) Arbeitswelt, die für viele zur Idee von Arbeit überhaupt geworden ist. Das ungewohnte Ambiente verblasst jedoch sofort vor der Allgemeinmenschlichkeit der Konflikte: die Bösen gegen die Guten, die intriganten Machtmenschen, der anarchische Selbsthelfer, große Opfer, echte Freundschaft, insgesamt das beständige Wachsen an den Herausforderungen, heroische Betriebsamkeit, und immer dabei: die Fürsorge der alten Hasen (der Brigadeleiter, Parteisekretäre oder Betriebsdirektoren).

Ein Fest der Sekundärtugenden! Vor allem der Western stand wohl Pate für die Darstellungen des Lebens auf der Großbaustelle (der Bergfilm hätte es auch getan). Kurz: Wir verstehen das noch sehr gut. Genau darum sind für mich diese Bücher nur noch als Protokolle des Scheiterns interessant. Dieses Allgemeinmenschelnde erscheint schließlich an der Stelle, an der der neue, von der kapitalistischen Lohnarbeit befreite Mensch eigentlich hätte erscheinen müssen. Das ist der zweite Befund.

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