Wozu Literatursoziologie?
von Carolin AmlingerDie erste Schwierigkeit, vor der die Literatursoziologie steht, ist die Definition ihres Gegenstands. Was in einer naiven Betrachtung womöglich als voraussetzungslos vorgestellt wird, das literarische Werk, erscheint im Blick der Literatursoziologie als ein Resultat gesellschaftlicher Prozesse. Statt rein auf den ästhetischen Gehalt eines literarischen Werks zu sehen, beobachtet die Literatursoziologie den Blick, der darüber entscheidet, ob und in welcher Weise ein Text als literarisch betrachtet wird. Was als Literatur definiert wird – und damit die Frage, welche Werke inkludiert werden und welche nicht –, erscheint dabei als ebenso dynamisch und kontingent wie die ästhetische Wertung, die Werke innerhalb dieses Rahmens einordnet.
Das zweite Problem der Literatursoziologie ist die Frage nach der Sozialität des Literarischen. Theodor W. Adorno bemerkt in seinen 1967 erschienenen Thesen zur Kunstsoziologie, in denen er scharf mit der empiristischen Ausrichtung der Disziplin abrechnet, knapp: »Die Frage, ob Kunst und alles, was auf sie sich bezieht, soziales Phänomen sei, ist selbst ein soziologisches Problem.«1 Ein ästhetisches Werk entsteht zweifelsohne in sozialen Strukturen, ob es dadurch aber erschöpfend erklärt wird, ist eine andere Frage. Ein literarischer Text lebt, was sich für Literaturwissenschaftlerinnen von selbst versteht, für Soziologen vielleicht eher nicht, durch einen konstitutiven Sinnüberschuss, das heißt er produziert mehr Sinn, als seine Verfasserin oder sein Verfasser zu intendieren, und mehr, als eine Interpretin oder Interpret eindeutig zu bestimmen vermag. Würde man die polyphone Semiotik literarischer Texte ignorieren, negierte man sich selbst als »Literatursoziologie«, hält der Literaturwissenschaftler Peter V. Zima in seiner Kritik der Literatursoziologie fest.2
Kurzum, die Frage der Vermittlung der beiden Größen ist eine Kernfrage der Literatursoziologie.3 Der soziale Gehalt von Literatur wurde zuweilen in ihrer Absage an Gesellschaft gedeutet; als autonomes Kunstwerk folge sie immanenten Organisationsprinzipien. Die soziale Welt ist hier als eine der Literatur äußerliche gedacht, die diese fremden Zwecken unterwerfen will. Eine solche Idee ist in ihrer Einseitigkeit so falsch wie ihr Gegenteil – die Vorstellung nämlich, Literatur sei ein reines Abbild jener Gesellschaft, in der sie entstanden ist. Literatur hat hingegen eine multiple Realität. Sie kann als Unvermitteltes erscheinen (und dadurch soziale Wirkkraft besitzen) oder sich als durch und durch vermittelt erschließen. Die Literatursoziologie kann helfen, die Pluralität der sozialen Erscheinungsformen von Literatur zu sehen.
Der Text als soziale Struktur
In seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel ab dem Jahr 1817 hielt, findet sich seine prominente geschichtsphilosophische Verortung der Romangattung: »Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus«.4
In der bürgerlichen Gesellschaft fühle sich das Individuum gegenüber den sozialen Institutionen, den Gesetzen und Verkehrsformen äußerlich. Das durch und durch poetische Gefühl, mit sich identisch zu sein und sich in einer gesellschaftlich-harmonischen Ganzheit zu erfahren, sei hier verloren. Hegels Fazit: Die spröde Prosa der bürgerlichen Welt schleudere den Einzelnen auf das harte Pflaster der Moderne. Und der Roman sei die ästhetische Artikulationsform dieser Erfahrung. In ihm kämpfe der Held gegen eine »ungehörige Welt«, die sich seinen subjektiven Wünschen versperrt.
Der junge Georg Lukács knüpft in seiner Theorie des Romans (1916) an Hegel an.5 Die ursprünglich angedachte geschichtsphilosophische Einleitung für seine nie vollendete Habilitation über Fjodor M. Dostojewski entstand laut seinem Vorwort für die zweite Auflage 1962 in einer »Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand«. Er entwickelt darin die Idee, dass die narrative Struktur eines literarischen Texts ein spezifisch soziales, in diesem Fall bürgerliches Zeiterleben verdichte: »Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.« Während sich ein bedeutungsstiftender Zusammenhang in einer von Kontingenz und unüberschaubarer Komplexität geprägten bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr erschließe, versuche der Roman, den Sinnverlust zu restituieren.
Insbesondere im Roman in seiner biografischen Form, in der ein Protagonist nach der unmöglichen Versöhnung mit der ihm äußerlich gewordenen Welt strebe, kondensiere sich das Schicksal eines »problematischen Individuums«. Bemerkenswert ist, dass sich in Lukács’ Augen in die ästhetische Form des Romans nicht nur die soziale Strukturierung der äußeren Realität einschreibt, sondern die Form dabei kontrafaktisch an etwas festhält, das konstitutiv verloren scheint: ein übergreifender Sinn, der das reine Sosein transzendiert.
Die Lektüre des jungen Lukács richtet ihre Aufmerksamkeit auf die »Undarstellbarkeit« eines fraktalen Bewusstseins, das erst in der ästhetischen Strukturierung der sozialen Welt beschreibbar wird. Literatur bildet für Lukács nicht nur mimetisch ab, was ist, sondern formuliert auch einen unlösbaren Zwiespalt von Sein und Sollen. Dadurch kann sie sich auch negativ zu ihrem Abbild verhalten und, wie Adorno formuliert, »das fortgeschrittenste Bewußtsein der Widersprüche im Horizont ihrer möglichen Versöhnung« formulieren.6
Die epistemische Pointe ist hier, dass die fiktionale Struktur eines literarischen Werks nicht einfach die Faktizität der bürgerlichen Welt abbilde, sondern auch die Nichtdarstellbarkeit dieser fragmentierten, nicht mehr als Totalität erfahrbaren Welt kompensiert. Der Erkenntnisgewinn zielt darum weniger auf die Semantik des Dargestellten, sondern es ist die formale Vermittlung von gesellschaftlichem Sinn (und dessen Scheitern), anhand derer sich die Gesellschaftlichkeit von Literatur manifestiert.
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