Lesekrisen
Ungleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse von Carolin AmlingerUngleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse
In einem meiner Seminare stellte ich Studierenden die Frage, ob sie denn in ihrer Kindheit gerne gelesen hätten. Ich ging selbstverständlich davon aus, dass sie sie positiv beantworten würden. Aber überraschenderweise sprach die Mehrheit gar nicht erst von den Gefühlen, die sie selbst mit Büchern verbanden, sondern von denen ihrer Eltern – und die schienen überwiegend negativ zu sein. Statt von beglückenden Erinnerungen an den ersten Leserausch berichteten sie von der nervösen Angst der Erwachsenen, das Kind lese nicht genug. Folglich wurde mit positiven (für Bücher gab es immer Geld) und negativen (kein Fernsehen, keine Computerspiele, kein Internet, kein Handy) Sanktionen gearbeitet, um das Kind zu konzentrierter Lektüre anzuhalten.
Entscheidend war dabei nicht, was das Kind las, sondern dass es las. Die Eltern schrieben nicht den Inhalten positive soziale Effekte zu, sondern dem Buch als solchem. Das ist kein Wunder. Kaum eine andere Kulturtechnik ist so eng mit Bildungsaspirationen verbunden wie das Bücherlesen. Man kann die Sorge der Eltern darum durchaus verstehen. Werden soziale Aufstiege mühsamer und die sozialen Ungleichheiten an den gesellschaftlichen Rändern sichtbarer, versuchen Eltern, den sozialen Status ihrer Kinder zu bewahren, indem sie diese mit allen nötigen Ressourcen ausstatten. Allem voran eben mit Büchern, die dem Kinderzimmer eine Atmosphäre des gesicherten Mittelstands verleihen. Doch die Panik der elterlichen Leseförderung zeigt an, was sich nur die Kinder auszusprechen trauen: Das enge Band von Buch und sozialem Aufstieg hat sich gelockert. Bildungsinvestitionen setzen nicht mehr automatisch eine soziale Aufwärtsmobilität in Gang. Dass die Eltern glauben, die »gute« Freizeitbeschäftigung des Bücherlesens gegen die »schlechten« Verlockungen digitaler Angebote verteidigen zu müssen, ist offensichtlich die Reaktion auf den impliziten Befund einer Lesekrise. Aber existiert diese wirklich? Und wenn ja: Was hat diese Kulturkrise zu tun mit der individuellen Bearbeitung von Gesellschaftskrisen?
Leserschwund und Lese-Hype
Zwar werden »mediale Schwellenzeiten«, in denen technologische Innovationen unseren Umgang mit Informationen grundlegend verändern, oft von einer übertriebenen Katastrophenstimmung begleitet, aber in einem Punkt behält der kulturkritische Selbstzweifel der Gegenwart offenbar Recht: Immer weniger Menschen lesen Bücher. Laut den letzten Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sinkt die Zahl der Buchkäuferinnen und Buchkäufer kontinuierlich. Im Jahr 2022 haben nur noch rund 25,8 Millionen Menschen mindestens ein Buch erworben. Das sind lediglich 39 Prozent der potentiellen Käuferschaft und rund 1,4 Millionen weniger Buchkäuferinnen und Buchkäufer als im Vorjahr. In den letzten zehn Jahren ist die Buchkäuferschaft um 11,1 Millionen Menschen geschrumpft.
Zugleich gibt es wieder mehr junge Menschen, die intensiv Bücher konsumieren. Durchschnittlich waren es fast zwölf gekaufte Bücher pro Person im letzten Jahr. Aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass auch bei jungen Menschen die Verkäufe um 18 Prozent zurückgegangen sind. Zwar wird das Lesen laut einer Studie der Stiftung Lesen aus dem Jahr 2020 von 71 Prozent der Bevölkerung als besonders wichtige Kompetenz eingestuft, aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass Bücherlesen im Alltag regelmäßig praktiziert würde. Oder praktiziert werden kann. Vor kurzem riefen die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) wieder große Besorgnis hervor. Die Lesekompetenz der Viertklässler ist seit der letzten Erhebung offenbar noch schlechter geworden. Jedes vierte Kind scheitert an einfachen Texten. Ist unsere Gesellschaft gespalten in zwei polare Lager? Das der Lesenden und das der Nichtlesenden?
Ein Indiz scheint die Polarisierungsbehauptung zu bestätigen: Während auf der einen Seite das Desinteresse gegenüber dem Bücherlesen zunimmt, wächst auf der anderen Seite die obsessive Identifikation mit dem Buch als materiellem Objekt und Symbol. Die Literaturwissenschaftlerin Jessica Pressman nennt dieses Phänomen »Bookishness«. Sie geht davon aus, dass die besessene Beschäftigung mit dem Buch das Symptom einer digitalisierten Kultur ist, in der Nähe, Intimität und Authentizität neu verhandelt werden müssen. Das gedruckte Buch wird zu einem Fetischobjekt, auf das bedroht geglaubte Erfahrungen projiziert werden. Der Geruch des Papiers, das haptische Umblättern der Seiten – die gesamte schwere Materialität des Buches gilt als geglückte Resonanzbeziehung in einer digitalen Kultur der Unnahbarkeit.
Als ich mit meinen Studierenden die Filiale einer großen Buchhandlungskette besuchte, stießen wir neben Büchern auf Gimmicks wie Smartphone-Hüllen in Form eines Buches, mit Buchcovern bedruckte Kissen oder Tassen mit der Aufschrift »Booklover«. Den Studierenden ist diese Kultur vertraut. Einige von ihnen posten regelmäßig unter den Hashtags #bookstagram oder #BookTok Posts mit aufwendig geschmückten Leseecken, die mit dem gedämpften Licht von Lichterketten, weichen Kissen und bestenfalls einer Katze eine Atmosphäre der Behaglichkeit erzeugen, die dem gewachsenen Bedürfnis junger Milieus nach Entschleunigung entspricht. Seit ich mich durch die Posts gescrollt habe, wird mir in der personalisierten Werbung immer wieder eine »Bibliotherapy« empfohlen, bei der zur Steigerung des mentalen Wohlbefindens Praktiken des »mindful reading« eingeübt werden sollen. Das immersive Lesen, die enge Verbindung des Lesenden zum Text, soll eine meditative Entspannung erzeugen, die das unruhige, durch unsichere Zukunftsaussichten und reizüberflutete Mediennutzung geplagte seelische Innenleben beruhigt.
Der Bedeutungsschwund des Buchs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene geht offenbar einher mit einer Aufwertung des Buchs als symbolischem Objekt in leseaffinen Sozialmilieus. Das soziale Verlustgefühl wird kompensiert, indem das Bücherlesen zu einer individuellen Lebensform und Identität aufgewertet wird. Paradoxerweise ist es gerade die gesellschaftliche Entwertung der kulturellen Praxis des Lesens, die es als geeignete Quelle der Singularisierung auszeichnet.
Pierre Bourdieu hat in Die feinen Unterschiede (1987) beobachtet, dass Objekte oder Praktiken an Distinktionskraft verlieren, wenn sie von al-len praktiziert werden. In dem Moment etwa, als die Angehörigen der aufgestiegenen Mittel- und Unterklassen die Tennisplätze zu bevölkern begannen, um ihre kulturellen Aspirationen Wirklichkeit werden zu lassen, wanderte die Oberklasse ab zum Golfplatz. Was passiert aber, wenn ein kulturelles Objekt von vielen zunehmend nicht mehr beachtet wird? Und darüber hinaus: Was passiert, wenn es seine verheißungsvolle Wirkung einbüßt, als Instrument sozialer Mobilität zu fungieren? Gewinnt es dadurch die attraktive Sozialfunktion zurück, Differenzen zu erzeugen? Konkret formuliert: Wird aus dem Buch, dem wohl wirkungsvollsten Kulturobjekt sozialer Teilhabe, wieder ein exklusives Mittel sozialer Abgrenzung?
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