Heft 894, November 2023

Lesekrisen

Ungleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse von Carolin Amlinger

Ungleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse

In einem meiner Seminare stellte ich Studierenden die Frage, ob sie denn in ihrer Kindheit gerne gelesen hätten. Ich ging selbstverständlich davon aus, dass sie sie positiv beantworten würden. Aber überraschenderweise sprach die Mehrheit gar nicht erst von den Gefühlen, die sie selbst mit Büchern verbanden, sondern von denen ihrer Eltern – und die schienen überwiegend negativ zu sein. Statt von beglückenden Erinnerungen an den ersten Leserausch berichteten sie von der nervösen Angst der Erwachsenen, das Kind lese nicht genug. Folglich wurde mit positiven (für Bücher gab es immer Geld) und negativen (kein Fernsehen, keine Computerspiele, kein Internet, kein Handy) Sanktionen gearbeitet, um das Kind zu konzentrierter Lektüre anzuhalten.

Entscheidend war dabei nicht, was das Kind las, sondern dass es las. Die Eltern schrieben nicht den Inhalten positive soziale Effekte zu, sondern dem Buch als solchem. Das ist kein Wunder. Kaum eine andere Kulturtechnik ist so eng mit Bildungsaspirationen verbunden wie das Bücherlesen. Man kann die Sorge der Eltern darum durchaus verstehen. Werden soziale Aufstiege mühsamer und die sozialen Ungleichheiten an den gesellschaftlichen Rändern sichtbarer, versuchen Eltern, den sozialen Status ihrer Kinder zu bewahren, indem sie diese mit allen nötigen Ressourcen ausstatten. Allem voran eben mit Büchern, die dem Kinderzimmer eine Atmosphäre des gesicherten Mittelstands verleihen. Doch die Panik der elterlichen Leseförderung zeigt an, was sich nur die Kinder auszusprechen trauen:1 Das enge Band von Buch und sozialem Aufstieg hat sich gelockert. Bildungsinvestitionen setzen nicht mehr automatisch eine soziale Aufwärtsmobilität in Gang. Dass die Eltern glauben, die »gute« Freizeitbeschäftigung des Bücherlesens gegen die »schlechten« Verlockungen digitaler Angebote verteidigen zu müssen, ist offensichtlich die Reaktion auf den impliziten Befund einer Lesekrise. Aber existiert diese wirklich? Und wenn ja: Was hat diese Kulturkrise zu tun mit der individuellen Bearbeitung von Gesellschaftskrisen?

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