Heft 869, Oktober 2021

Zum Diktieren in den Geisteswissenschaften 1800–1989

von David Kuchenbuch

Es lässt sich ein Trend beobachten, Leben und Werk von Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlern analytisch stärker aufeinander zu beziehen. So macht sich Thomas Etzemüller in der Einleitung seines Bands zur Performanz in der Wissenschaft Gedanken über die Selbstdarstellung im akademischen Betrieb,1 zu der paradoxerweise eine Schweigepflicht über die eigene Person gehöre. Auch Paul Nolte hat in seinem Buch Lebens Werk solche Bezüge herzustellen versucht: Es ist der Biografie der Deutschen Geschichte 1800–1918 gewidmet, also der 2700 Seiten umfassenden Gesamtdarstellung des Historikers Thomas Nipperdey, die zwischen 1983 und 1992 erschien.2 Nolte analysiert diese vor dem Hintergrund eines Desiderats. Anders als bei den Laborwissenschaften wissen wir wenig über die Entstehungsprozesse geisteswissenschaftlichen Wissens, vor allem aber über die Geschichte seiner Darstellungsformen, und das, obwohl der Darstellung in diesen buchfixierten Fächern besonders große Bedeutung zukommt und obwohl Wissenschaftshistoriker wie Hans-Jörg Rheinberger wiederholt darauf hingewiesen haben, dass sich auch das Schreiben als Experimentalsystem begreifen lässt. Was Nolte anhand von Verlagskorrespondenzen, mit Blick auf Schreibzeiten, die im universitären Alltag erkämpft werden müssen, aber auch auf die Funktion des nationalgeschichtlichen Opus magnum als »Geste der Dominanz« beschreibt, mag einem noch vertraut erscheinen. Aber hinsichtlich von Nipperdeys eigentlicher Arbeit am Text stellt sich nicht nur bei Nolte spürbar ein Befremden ein – ein Fremdheitsgefühl, das neugierig macht. 

Nolte macht nämlich kein Hehl daraus, dass sich der »praktische Lebensvollzug«, der Nipperdeys Dominanzgeste erst »möglich machte […], auf ein patriarchalisch organisiertes Privatleben« stützte. Zugleich verdeutlicht Nolte, dass wir uns die geisteswissenschaftlichen Schreibstuben zu Nipperdeys Zeiten als ziemlich bevölkerte Räume vorstellen müssen. Lange bevor die Deutsche Geschichte auf den Tischen der Verlagslektoren landete, war sie Gegenstand einer Vielzahl von sozialen Interaktionen. So berichtet Nolte von intensiven Auf- und Umschreibearbeiten, an denen nicht weniger als sieben der Münchner Lehrstuhlmitarbeiter Nipperdeys beteiligt waren. Der verfasste seine Gesamtdarstellung nämlich auf Basis seiner Erinnerung an die Lektüre der Sekundärliteratur, also ohne Exzerpte oder Zettelkasten. Und das machte aufwändige Nachbearbeitungen nötig, etwa das Setzen der Literaturhinweise, die Nipperdeys Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kompilierten. Vor allem aber entstanden auch die Erstfassungen der Kapitel in rekursiven Prozessen. Nipperdey schrieb sie teils handschriftlich, um sie dann durch seine Sekretärin Hannelore Letsch abtippen und sich zur Korrektur wiedervorlegen zu lassen. Dann wieder sprach er Kapitelentwürfe auf ein Diktiergerät, Letsch schrieb diese maschinenschriftlich rein, und zwar mithilfe eines speziellen Abspielgeräts, das sie mit den Füßen ansteuern konnte, um die Hände zum Tippen frei zu haben.

Von all diesen Arbeitsschritten ist in den fertigen Büchern Nipperdey’schen Typs nichts mehr zu erkennen. Nolte wertet das wiederum als Funktion einer Art lone-genius-Mythos. Es ist dieser Mythos, den wir durch eine auf die fertigen Schreibprodukte fixierte Traditionspflege zu reproduzieren neigen. Das ist umso ironischer, als die geschichtsverändernde Rolle heroischer Einzeltypen auch schon in den 1980er Jahren nicht mehr unkritisch angenommen werden durfte. Heute glaubt gerade die Historiografie, gänzlich mit der Idee des großen Mannes aufgeräumt zu haben. Aber kommt diese nicht zur Hintertür wieder herein, wenn grundsätzlich unerwähnt bleibt, dass hinter vielen großen Namen Teams standen, und zwar keineswegs nur von Schreibkräften?

Wir müssen auch jene Kolleginnen, studentischen Hilfskräfte, Freunde, Ehepartner hinzuzählen, die in den Danksagungen der heroischen Einzelwerke auftauchen. Dass die immer gleichen Formeln solcher Danksagungen inzwischen zur ironisierbaren Trope geworden sind, ändert nichts daran, wie wenig wir wissen über diejenigen, die an den entsprechenden Werken mitgearbeitet haben – anders als über die vielen »Subalternen« im Dienst der naturwissenschaftlichen Forschung: Labordiener, technische Zeichnerinnen, Rechenkräfte. Ich meine das nicht (nur) als moralisierende Aufforderung, die »Vergessenen« im Wissenschaftsbetrieb sichtbar zu machen, was schon mit Blick auf die Überlieferungslage nicht einfach ist. Wenn wir die wissenschaftsgeschichtliche Anregung ernst nehmen, dass soziale Umstände mitwirken an den Erkenntnissen, die Wissenschaftler produzieren, dann muss das auch für das gelten, was Literaturwissenschaftler als »Schreibszenen« bezeichnen. Erst wenn man diese genauer untersucht, erkennt man erstens die Bedingungen der so erstaunlichen Produktivität vieler historischer Geistesgrößen. Zweitens, so scheint mir, treten einem dann auch kreative Potentiale klarer vor Augen, die bestimmte Formen der sozialen Interaktion bei der Arbeit an den Darstellungen dieser Wissenschaftler entfesselt haben. 

Das Diktat als phono-graphische Schreibszene

An der Technik des Diktierens lässt sich das besonders eindringlich zeigen. Obwohl sich eine kaum übersehbare Zahl an Veröffentlichungen im Grenzbereich von Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaften dem Schreiben als Kulturtechnik widmet, war vom Diktat lange kaum die Rede. Dass sich das in den letzten Jahren geändert hat, hat nicht zuletzt mit dem Phänomen des Hörbuchs zu tun, das das Interesse an »Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit« neu entflammt hat. So hat Natalie Binczek darauf hingewiesen, dass die Kulturtechnik des Diktats auch in Zeiten des Smartphones nicht verschwunden ist. Obschon sich die Technologien der Notation änderten – immer handle es sich bei Diktaten um die Übersetzung von Stimme in Schrift. Das Diktieren bilde also eine »Transkriptionsschnittstelle, an welcher die dem mündlichen Ausdruck […] eigene Färbung aus dem schriftlich niedergelegten Text herausfällt«, so Binczek. Denn anders als bei Audioaufzeichnungen, die »Versprecher, Aussetzer oder Unterbrechungen […] dokumentieren, glättet der Sekretär, sofern er während des Diktats mitdenkt, vielleicht auch mitformuliert, den Text […], indem er Stotterndes, Stockendes, Unverständliches etc. nicht notiert«. Dasselbe leiste auch heutige Spracherkennungssoftware, die ja nur semantisch Identifizierbares in Schrift übertrage. Und so scheine das Diktat zwischen Menschen in der Tat irrelevant geworden zu sein: Als Arbeitstechnik antworte es ja auf das Bedürfnis, die Schreib- an die Denkgeschwindigkeit anzupassen. Dass sich aber gerade aus dieser »stets problematischen Synchronisation von Kommunikation und Bewusstsein« ganz eigene Effekte ergeben, werde selten reflektiert.3 

Diese Beobachtung hat Binczek 2015 in dem gemeinsam mit ihrer Kollegin Cornelia Epping-Jäger herausgegebenen Band Das Diktat vertieft.4 Es sei hochinteressant, »die Interaktionsverhältnisse, die Symmetrien und Asymmetrien des sprachlichen Austauschs in den Blick [zu] nehmen«, den das Diktat als »Schreibszene« darstelle. Das ist ein Begriff, den der Literaturwissenschaftler Rüdiger Campe schon 1991 geprägt hat und der besonders gut auf das Diktieren passt. Denn es ist gerade der Bühnencharakter vieler Diktatsituationen, der hinsichtlich ihrer Produktivität jenseits bloßer Beschleunigungsgewinne interessieren muss. Keineswegs, so Binzcek und Epping-Jäger, handle es sich nämlich bei allen Diktaten um reine Übertragungsvorgänge. Es liege auch produktionsästhetisches Potential im diktierenden Schreiben. Und zwar insofern, als es den Diktierenden für sich selbst gleichsam als »Fremden« erfahrbar mache, so die Forscherinnen. Dass sich also der »Richtungspfeil« der Kommunikation im Diktat bisweilen umkehre, sei ein Effekt, der sich wiederum in den Schreibprozess einbringen lasse.

Stilles Einvernehmen

Schon der Titel von Heide Sommers 2019 erschienener Autobiografie Lassen Sie mich mal machen weist auf die erwähnte Umkehrung des Richtungspfeils hin: das Machen, und die zwar berühmten, aber implizit untätigen oder gar unfähigen Männer.5 Wichtig ist aber zunächst einmal, dass die 1940 geborene Sommer sich für ihren Beruf als Sekretärin ganz bewusst entschied, nachdem sie bei einer Podiumsdiskussion ihren späteren Ehemann Theo Sommer, Journalist bei der Zeit, hatte reden hören. Dass dies nach einer handelskammerzertifizierten Stenografie-Ausbildung 1963 sofort gelang, so Sommer, verweist auf eine bundesrepublikanische Hochkonjunktur, während derer Stenotypistinnen und Sekretärinnen sehr gesucht waren.

Sommer sieht sich rückblickend als selbstbestimmte junge Frau, die gezielt und mit Leidenschaft ihrer Arbeit nachging. Sie schildert in ihrem Buch zugleich einen Alltag in den Büros der Bundesrepublik, der aus feministischer Sicht ziemlich problematisch erscheint. Man bekommt allerlei Einblicke in eine untergegangene Welt voller überquellender Aschenbecher, voller dauerarbeitender, verheirateter Männer, die ihre Finger nicht bei sich lassen können. Sommer indes betont, dass das für sie mehr als kompensiert wurde von dem Gefühl von Anerkennung, das sie daraus zog, dass sie Theo Sommers Artikel und Essays nicht nur stenografisch aufnahm und dann abtippte, sondern beim Diktat auch Verbesserungsvorschläge machte, wodurch sich bald »ein stilles Einvernehmen über Sprachgefühl, über die Qualität von Sätzen, Absätzen und Artikeln« herausbildete. Dass es nach allerlei »fragenden Blicken« dann zu einer Affäre kam, die dazu führte, dass Sommer – und nur sie – gezwungen wurde, die Zeit-Redaktion zu verlassen, muss uns weniger interessieren als das, was sie zur Arbeitsweise einer Zeitschriftenredaktion vor der Einführung des Desktop-Publishing zu sagen hat. Beispielsweise zu einem Lautstärkepegel, der die Übertragung von Mündlichkeit in Schriftlichkeit oft zur Herausforderung machte. Bei Günter Gaus vom Spiegel war es indes dessen schwer entzifferbare Sütterlinschrift, die den Grund dafür bildete, dass auch er Sommer seine Artikel durchs Büro tigernd diktierte, wobei erneut »in der Intimität der Diktatsituation« eine geradezu »erotische Spannung entstand«, die den Arbeitseifer »enorm ankurbelte«.

Sommers Karriere stellt uns vor Fragen wie: Wer waren die Schreibkräfte? Was hatten sie für eine Ausbildung durchlaufen? Waren sie mit genau diesem Arbeitsziel gestartet? War das für sie tendenziell ein Aufstieg oder Ergebnis einer Zwangslage? Dass die Diktierarbeit der 1960er Jahre stark von der Kategorie »Geschlecht« überformt war, ist deutlich geworden. Dass vor allem Frauen für Männer schrieben, war aber nicht immer so gewesen: Der Aufstieg der weiblichen Schreibkräfte kam nicht selten einer Entwertung der Schreibarbeit gleich. Zugleich konnte die Schreibszene aber durchaus Spielräume öffnen für Selbstbestimmung und Sinnstiftung in einer grundsätzlich asymmetrischen Arbeitswelt. Sommer schildert ja eine Horizontverschmelzung zwischen Diktatgeber und Diktatnehmer, zumindest aber eine gemeinsame ästhetische Urteilsbildung. 

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors