27 Schritte durchs Spazieren
von David Wagner1
Ein Spaziergang von Robert Walser, an den ich ab und zu denken muss, führte ihn von Bern nach Zürich. Er unternahm ihn nicht zum Vergnügen oder weil er sich zerstreuen wollte, sondern weil er zu einer Lesung eingeladen war. Walser brach am Vormittag in Bern auf, übernachtete unterwegs und kam am Nachmittag des folgenden Tages in Zürich an. Der Ostschweiz-Wanderer, der große Spaziergänger, der Schriftsteller, dem wir die exemplarische Erzählung Der Spaziergang verdanken, kam wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, sich anders als zu Fuß nach Zürich zu begeben. Er musste spazieren.
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Das Verb spazieren und der zugehörige Spaziergang leiten sich vom italienischen spaziare, sich räumlich ausbreiten, sich ergehen ab. Die Übernahme ins Deutsche soll schon im 15. Jahrhundert stattgefunden haben, als es ein Wort für eine Tätigkeit brauchte, die bei denen aufkam, die Zeit, Muße und einen Ort hatten, um sich zweckfrei zu bewegen. Leibeigene, so viel lässt sich vermuten, waren damals eher keine großen Spaziergänger. Der neu erfundene Zeitvertreib, der auch ambulieren oder lustwandeln und später promenieren oder flanieren genannt wurde, war zuerst eine höfische, also aristokratische Tätigkeit, die in entsprechenden Gärten um Schlösser herum stattfand, der bald stärker wirkende französische Einfluss ist deutlich herauszuhören. Viel später, eigentlich erst im 19. Jahrhundert, entwickelte sich eine bürgerliche und städtische Spazierkultur, die in Grünanlagen auf ehemaligen Festungsbauten, auf Ringstraßen, großen Boulevards, in Parks oder Passagen ihr Schweifgebiet fand.
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Spazieren ist die Kunst, seinen Körper in Bewegung zu versetzen, ohne dass diese unmittelbar etwas einbringt – abgesehen von den Eindrücken, die ich während des Spazierens sammle. Spazieren ist kein Sport und auch keine gymnastische Übung, Spazieren soll im besten Fall eine ästhetische Tätigkeit sein, eine künstlerische Praxis, die – sich treiben lassen, driften hilft – in den Müßiggang übergehen kann, die Grenzen sind fließend. Spazieren ist antikapitalistisch, weil im materialistischen Sinne unproduktiv, und macht sich in seinen Varianten Herumstreunen und Landstreichen gern verdächtig.
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Robert Walser ist in seinem Leben viel spaziert und zu Fuß gegangen, durch Biel, Bern, Berlin und die halbe Schweiz, aber es war sein Mentor und Vormund der späten Jahre, Carl Seelig, der ihn zu dem großen Spaziergänger gemacht hat, den wir heute in ihm sehen, sein Erinnerungsbuch Wanderungen mit Robert Walser von 1957 hat daran einen großen Anteil. Selig betrachtete Walsers Spazierbewegungen und seine Gewaltmärsche als Teil des Werks, Walser selbst hat sich jedoch nie als Bummelgenie oder König der Spaziergänger bezeichnet, er ging einfach zu Fuß, wenn es sein musste, auch hundertvierzehn oder hundertfünfzehn Kilometer von Bern bis nach Zürich. Eine Strecke, die für durchschnittliche Fuß- und Spaziergänger kaum zu bewältigen ist, weil sie doch eher einen Gewaltmarsch darstellt. Seit Johann Gottfried Seume sich aber in den Jahren 1801/02 räumlich von Grimma in Sachsen bis nach Syrakus in Sizilien ausgebreitet hat – um die wörtliche Übersetzung des italienischen spaziare zu bemühen –, darf im Deutschen auch eine über große Entfernungen zurückgelegte Fußreise »Spaziergang« genannt werden.
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Der Spaziergang von Robert Walser, erschienen 1917, beschreibt hingegen einen viel kürzeren Rundgang durch eine übersichtlich frühmoderne Stadt. Angetrieben von Bewegungs- und Schaulust begibt ein Schriftsteller ohne im herkömmlichen Sinne geordneten Tagesablauf sich auf eine Erkundung des eigentlich Bekannten, das sich durch seine Betrachtungs- und Entdeckungsfreude jedoch verwandelt. Das glänzende Ladenschild eines Bäckers wird zu seinem Goldenen Vlies, und die Essenseinladung bei einer reichen Gönnerin – Walsers Erzählung kreist mit Besuchen bei der Bank und auf der Gemeindekasse unterschwellig immer auch um Geld, von dem der freie Schriftsteller nicht allzu viel besitzt – zu einer Art Gastmahl des Trimalchio.
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Spazieren heute, über hundert Jahre nach Der Spaziergang: Im Sommer bin ich, teils allein, teils in Begleitung, die Berliner Ringbahn abspaziert, einmal rundherum, die ganze Strecke, die auf dem Stadtplan wie ein Hundskopf aussieht, dessen Schnauze zwischen Westend, Witzleben und Westkreuz liegt. Ich wollte, das war die psychogeografische Spazieraufgabe, die nur auf dem Stadtplan und von sehr weit oben über der Stadt sichtbare Figur spazierend nachzeichnen und dabei immer so dicht wie möglich an den Gleisen bleiben, mal innen, mal außen. Dieser Konzept-Spaziergang führte an Autohäusern, Bahnanlagen, Neubausiedlungen, Kleingärten, Swinger-Clubs, Tonstudios, Spielplätzen, Obdachlosenwohnheimen, neuangelegten Stadtplätzen, Stadtautobahnausfahrten, Großbordellen, vielen Baustellen und Bahnhofsvorplätzen vorbei. Über die Stadt war einiges zu lernen.
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Spazieren heute, mir fällt der Flughafenspaziergang ein, ebenfalls eine psychogeografische Übung, die da lautete, zu Fuß zum Startflughafen zu gehen und vom Zielflughafen in die Stadt hineinzuspazieren. Einmal habe ich sie erfüllt, diese Aufgabe, es gelang mir zwischen Berlin und Lissabon. Ich verließ unsere Berliner Wohnung, wanderte nach Tegel, wo der Flughafen sich damals noch befand, flog nach Portugal und marschierte vom Lissaboner Flughafen durch Portela und dann ein gutes Stück am Tejo entlang bis in die Lissaboner Altstadt. Es empfiehlt sich, fast ohne Gepäck zum Flughafen zu spazieren.
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