Heft 899, April 2024

27 Schritte durchs Spazieren

von David Wagner

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Ein Spaziergang von Robert Walser, an den ich ab und zu denken muss, führte ihn von Bern nach Zürich. Er unternahm ihn nicht zum Vergnügen oder weil er sich zerstreuen wollte, sondern weil er zu einer Lesung eingeladen war. Walser brach am Vormittag in Bern auf, übernachtete unterwegs und kam am Nachmittag des folgenden Tages in Zürich an. Der Ostschweiz-Wanderer, der große Spaziergänger, der Schriftsteller, dem wir die exemplarische Erzählung Der Spaziergang verdanken, kam wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, sich anders als zu Fuß nach Zürich zu begeben. Er musste spazieren.

2

Das Verb spazieren und der zugehörige Spaziergang leiten sich vom italienischen spaziare, sich räumlich ausbreiten, sich ergehen ab. Die Übernahme ins Deutsche soll schon im 15. Jahrhundert stattgefunden haben, als es ein Wort für eine Tätigkeit brauchte, die bei denen aufkam, die Zeit, Muße und einen Ort hatten, um sich zweckfrei zu bewegen. Leibeigene, so viel lässt sich vermuten, waren damals eher keine großen Spaziergänger. Der neu erfundene Zeitvertreib, der auch ambulieren oder lustwandeln und später promenieren oder flanieren genannt wurde, war zuerst eine höfische, also aristokratische Tätigkeit, die in entsprechenden Gärten um Schlösser herum stattfand, der bald stärker wirkende französische Einfluss ist deutlich herauszuhören. Viel später, eigentlich erst im 19. Jahrhundert, entwickelte sich eine bürgerliche und städtische Spazierkultur, die in Grünanlagen auf ehemaligen Festungsbauten, auf Ringstraßen, großen Boulevards, in Parks oder Passagen ihr Schweifgebiet fand.

3

Spazieren ist die Kunst, seinen Körper in Bewegung zu versetzen, ohne dass diese unmittelbar etwas einbringt – abgesehen von den Eindrücken, die ich während des Spazierens sammle. Spazieren ist kein Sport und auch keine gymnastische Übung, Spazieren soll im besten Fall eine ästhetische Tätigkeit sein, eine künstlerische Praxis, die – sich treiben lassen, driften hilft – in den Müßiggang übergehen kann, die Grenzen sind fließend. Spazieren ist antikapitalistisch, weil im materialistischen Sinne unproduktiv, und macht sich in seinen Varianten Herumstreunen und Landstreichen gern verdächtig.

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