Heft 859, Dezember 2020

Die Venedig-Bewegung

von David Wagner

»Und wohin gehen wir?«

»Durch Venedig.«

»Ist das ein Traum? Oder spazieren wir wirklich?«

»Wie du willst. Wahrscheinlich beides. Venedig ist doch immer ein Traum.«

»Den Palazzo zu Fuß zu verlassen, heißt ihn auf der unansehnlichen Seite zu verlassen, auf die dunkle, enge, feuchte Gasse hinauszukommen. Der eigentliche Ausgang liegt am Kanal. Am Wasser.«

»Wäre es passender gewesen, mit einem Boot an der Wasserpforte zu warten?«

»Im Traum immer. Mit einem Wassertaxi. Besser noch mit einer Gondel. Und du müsstest rudern.«

»Übers Wasser durch die Stadt.«

»Die Gasse ist so schmal. Breitere Personen kommen hier kaum durch. Könnten stecken bleiben.«

»Rechts, dann links, dann wieder rechts.«

»Musst du nicht sagen, es gibt keine andere Möglichkeit. Die Calle knickt ab und knickt wieder. Unsere Route schreibt eine eckige Blockschrift.«

»Gleich gibt es drei Möglichkeiten abzubiegen. Und da vorne vier.«

»Manchmal, wenn ich nicht weiß, wie ich gehen muss, erinnert mein Körper sich an den Weg. Als ob der Rumpf entscheiden würde.«

»Dein Rumpf?«

»Ja, der Körper, noch in Bewegung, weiß, wohin er sich schieben muss.«

»Mein Körper erinnert sich vor allem an nasse Füße.«

»Hin und wieder werden halt die Füße feucht. Selbst in Gummistiefeln.«

»Gehen wir über diese Brücke?«

»Anders kommen wir nicht hinüber.«

»Hinauf, hinüber, hinab. Sich durch Venedig zu bewegen bedeutet immer auch, in der Vertikalen unterwegs zu sein.«

»Treppe rauf, Treppe runter. Der Ponte dell’Accademia geht ganz schön in die Beine.«

»Das wellenförmige Auf und Ab bildet die bewegte Wasseroberfläche unter uns ab.«

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors