Berliner Zimmer (2017)
von David WagnerEin Bekannter und seine Freundin sind in eine Kreuzberger Vorderhauswohnung gezogen, um die zweihundert Quadratmeter groß, Zimmer auch im Seitenflügel, Blick auf den Kanal. Wir sind zum Housewarming eingeladen und kommen zu fünft.
»Ist ja eine Traumwohnung«, sagt Hanna, die selbst in einer Traumwohnung lebt.
Die Schuhe sollen wir anscheinend ausziehen. In dem riesigen Berliner Zimmer – Wände wurden herausgerissen, eine schlichte dunkle Küchenzeile und eine Kochinsel eingebaut – unterhalten sich bereits viele Gäste. Alle stehen in Socken oder in Strumpfhosen auf dem Parkett.1
Sind wir zu spät? Nein, die vielen Briten, die sich hier versammelt haben, sind einfach sehr pünktlich erschienen.
Wir begrüßen und werden begrüßt, versorgen uns mit Getränken und sprechen über die Wohnung. Worüber sonst. Über diese Wohnung, Wohnungen im Allgemeinen und das Wohnen an sich.
Mir fallen andere, weniger prächtig renovierte Kreuzberger Wohnungen ein, Brittas in der Eisenbahnstraße zum Beispiel. Mit ihren einfachen, verzogenen und daher schlecht schließenden Vorkriegsfenstern. Britta heizt mit elektrischen Radiatoren, die mit vor dem Zähler abgezapftem Strom betrieben werden. Ihre Öfen hat sie seit Ewigkeiten nicht mehr befeuert.
Albrechts Wohnung fällt mir ein. Aus seinem Wohn- und Arbeitszimmer schaut er über den Heinrichplatz, Tag und Nacht ein Kreuzberg-Diorama vor den Fenstern, live. Das Haus, vor Urzeiten einmal ein besetztes Haus, gehört einer Genossenschaft, die vor einigen Jahren wegen Misswirtschaft fast pleite war. Jetzt ist alles wieder gut. Albrecht hat so viele Bücher in jedem Zimmer, dass er sich Sorgen um die Statik machte, bis ihn jemand beruhigte, dass die Decken und Böden der Berliner Wohnungen, in denen einst schwere Kachelöfen standen, sehr viele Bücher tragen können.
Isoldes Wohnung am Erkelenzdamm fällt mir ein, jenseits des Kanals und ein kleines Stück weiter. Ihr Haus ist ungewöhnlich schmal für einen Berliner Altbau. So schmal, dass es auf jeder Etage nur eine Wohnung gibt, und folglich wenig Treppenhausverkehr. Wurde deshalb schon bei allen Parteien eingebrochen? Das Kottbusser Tor mit seiner offenen Drogenszene ist nicht weit. Auf ihrem Balkon wächst eine Birke, die mittlerweile, Isolde wohnt bald ein Vierteljahrhundert in ihrer Wohnung, viel zu groß für ihren Balkon ist.
Wir stoßen an, Hanna, Nora, Friederike, Jan und ich. Und ich erzähle von Herrn Rutschkys Wohnung in der Wartenburgstraße. Sie ähnelt dieser, deren Einweihung wir jetzt feiern, sehr. Nur, dass Herrn Rutschkys Wohnung unsaniert ist. Und seit dem Einzug des Ehepaars Rutschky im Jahr 1984 nur sehr behutsam renoviert wurde. »Eher gar nicht«, sage ich. »In ihrer Küche gibt es noch den Hängeboden über der Kochmaschine, auf dem das arme Dienstmädchen ihren Schlafplatz hatte.«
»Und, nutzt er den noch?«, fragt Jan.
»Soweit ich weiß, wurde der zuletzt genutzt, als die Mieter dieser Offizierswohnungen glaubten, sich Personal halten zu müssen. Im vorletzten Jahrhundert.«
»Ein Schlafplatz über dem Herd? Ich weiß nicht«, sagt Nora.
»In Rutschkys Vorderhauszimmern mit Flügeltüren, üppigen Stuckdecken und Intarsienparkett stehen die Bücher lustigerweise in Regalen, die sie in den frühen siebziger Jahren aus heute antik wirkenden hölzernen Apfelsinenkisten zusammengestapelt haben.«
»Wohnt er jetzt alleine dort?«
»Mit Hund. Seit Katharina Rutschky gestorben ist, wohnt er mit Hund und Katze in der Beletage. Und hat mir neulich von einer Mieterhöhung erzählt. Die Miete liegt nun tatsächlich über fünfhundert Euro warm im Monat.«
Alle lachen.
»Weinen sollten wir«, sagt Jan.
»Diese Wohnung ist sicherlich ein bisschen teurer«, sagt Nora und schaut sich um. »Mir gefällt, dass das Berliner Zimmer jetzt eine große Wohnküche ist.«
»Das habe ich schon öfter gesehen«, sagt Friederike. »Zuletzt in Charlottenburg. Das Berliner Zimmer in eine offene Küche verwandelt. Der Herd muss dort allerdings mit Gasflaschen betrieben werden, weil der Hausherr auch ohne Anschlüsse nicht auf das Kochen mit Gas verzichten wollte.«
»Das wäre mir zu umständlich«, sagt Hanna.
»Mir gefallen Berliner Zimmer besser, wenn sie Bibliotheken sind. Und so die fensterlosen Wandflächen nutzen«, sage ich.
»Irgendwie muss man so ein Durchgangszimmer ja nutzen«, sagt Nora. »Hansi hat dort seinen Flügel stehen.«
»Hanna doch auch. Und ihre Bücher«, sagt Friederike.
»Hier ist es der soziale Raum. Die große Partyfläche«, sagt Jan. »Karin und Joachim hatten in ihrer Mommsenstraßenwohnung das größte Berliner Zimmer. Es war ein Saal. Ein Rittersaal. Für ihre Bankette und Tafelrunden.«
»Hier ist alles so schön neu. Neu verputzt und gestrichen«, sagt Nora. »Fast ein wenig unheimlich, dass ein Altbau innen so neu aussehen kann. Als wäre jede Erinnerung herausrenoviert worden.«
»Die Wandfarbe gefällt mir«, sagt Hanna.
»Der Farbton heißt Ammonite. Die Farbe ist von Farrow & Ball. Kostet ein kleines Vermögen«, sagt Friederike.
»Das kannst du sehen?«, fragt Jan.
»Die Malerin kennt sich halt mit Farben aus«, sage ich. »Sie sieht hundert Abstufungen von Grau, wo wir gar nichts sehen.«
Jan weiß, dass der Gastgeber diese Wohnung kaufen konnte, weil er nach seiner Scheidung ein kleines Haus in Hackney, London, veräußert hat, dessen Wert sich in wenigen Jahren fast verdreifacht hatte.
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