Heft 854, Juli 2020

Hausbesuche IV: Bayreuth

Wagner sucht Wagner von David Wagner

Samstag, 27. Juli 2019

Wir fahren mit einem Mietwagen von Berlin nach Bayreuth, kommen gegen Mittag bei meiner Cousine an, wir können bei ihr übernachten, und gehen mit ihr und ihrem Mann in einen Biergarten, um uns mit fränkischen Bratwürsten für die Meistersinger von Nürnberg am Nachmittag zu stärken. Weil sie weiß, wie kompliziert es um das Festspielhaus herum mit dem Parken ist, bringt meine Cousine uns in ihrem Auto zum Grünen Hügel hinauf – und dann, wir trinken noch einen Kaffee, sitzen wir auch schon auf den Klappsitzen im Parkett, die keine Armlehnen und keine Polster haben, jede Bewegung der Sitznachbarn links und rechts überträgt sich, in allen Reihen wird mit den buchdicken Programmheften, mit Fächern oder der flachen Hand wild herumgewedelt, denn es ist furchtbar heiß im Festspielhaus. Während der Ouvertüre – heute ist die Wiederaufnahme-Premiere der Inszenierung von Barry Kosky aus dem Jahr 2018 – klingelt das erste Telefon.

Die Bühne zeigt den Salon der Villa Wahnfried, eine Richard-Wagner-Figur, die sich später in Hans Sachs verwandeln wird, komponiert am Flügel sitzend Doppelgänger und Weggefährten herbei, die nach und nach zu frühneuzeitlich kostümierten Nürnberger Meistersängern werden, die Figuren klettern buchstäblich aus dem offenen Flügel auf die Bühne – die Personen des Musikdramas werden hier tatsächlich aus dem Geist der Musik geboren. Ein großartiger Einfall.

Darüber, dass auf der Bühne nur noch gesungen und nicht mehr, wie im normalen Leben, gesprochen wird, wundere ich mich wie immer nur kurz. Es dauert nicht lange, und ich glaube wieder, wir alle sollten uns immer nur singend unterhalten. Als das Licht einen Augenblick oder doch knapp zwei Stunden später zur ersten Pause wieder angeht, sehe ich, dass fast alle Männer im Publikum – die meisten haben graue oder weiße Haare oder gar keine mehr – sich ihrer Anzugsjacken entledigt haben, es ist einfach zu heiß, weiße Hemden überall im Saal, das Parkett sieht aus wie der Kontrollraum in Houston während der Mondlandung.

Es gibt einige Bayreuther Pausenrituale: Wir könnten uns an einen vorbestellten Tisch im Steigenberger-Festspielrestaurant setzen und genüsslich tafeln – wir haben allerdings nicht vorbestellt. Wir könnten, wären wir nur mit dem Auto gekommen und hätten uns besser vorbereitet, schnell zum Parkplatz hinter dem Festspielhaus hinaufeilen, eine Kühlbox hervorholen und diese zu einer der begehrten Bänke oder gleich auf die Wiese tragen, um dort mit Nudelsalat, belegten Broten und Champagner zu picknicken. Manche Festspielgäste picknicken auch gleich auf dem Parkplatz, in Abendgarderobe auf Campingstühlen oder am aufgeklappten Kombi-Kofferraum. Andere vernachlässigen die Nahrungsaufnahme erst einmal und wandeln in der gepflegten Grünanlage umher, um andere Umherwandelnde zu beobachten. Wir vertreiben uns die Zeit mit Nationalitätenraten: Woher mag das Paar dort drüben nach Bayreuth gekommen sein? War einst nicht sogar der Kaiser von Brasilien in Bayreuth? In der Reihe vor uns sitzt eine Irin, neben uns Katalanen und hinter uns zwei Mexikaner. Eine Französin, deren Zugfahrt nach Bayreuth fünfzehn Stunden gedauert hat, haben wir schon im Kartenbüro kennengelernt.

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