Hausbesuche IV: Bayreuth
Wagner sucht Wagner von David WagnerSamstag, 27. Juli 2019
Wir fahren mit einem Mietwagen von Berlin nach Bayreuth, kommen gegen Mittag bei meiner Cousine an, wir können bei ihr übernachten, und gehen mit ihr und ihrem Mann in einen Biergarten, um uns mit fränkischen Bratwürsten für die Meistersinger von Nürnberg am Nachmittag zu stärken. Weil sie weiß, wie kompliziert es um das Festspielhaus herum mit dem Parken ist, bringt meine Cousine uns in ihrem Auto zum Grünen Hügel hinauf – und dann, wir trinken noch einen Kaffee, sitzen wir auch schon auf den Klappsitzen im Parkett, die keine Armlehnen und keine Polster haben, jede Bewegung der Sitznachbarn links und rechts überträgt sich, in allen Reihen wird mit den buchdicken Programmheften, mit Fächern oder der flachen Hand wild herumgewedelt, denn es ist furchtbar heiß im Festspielhaus. Während der Ouvertüre – heute ist die Wiederaufnahme-Premiere der Inszenierung von Barry Kosky aus dem Jahr 2018 – klingelt das erste Telefon.
Die Bühne zeigt den Salon der Villa Wahnfried, eine Richard-Wagner-Figur, die sich später in Hans Sachs verwandeln wird, komponiert am Flügel sitzend Doppelgänger und Weggefährten herbei, die nach und nach zu frühneuzeitlich kostümierten Nürnberger Meistersängern werden, die Figuren klettern buchstäblich aus dem offenen Flügel auf die Bühne – die Personen des Musikdramas werden hier tatsächlich aus dem Geist der Musik geboren. Ein großartiger Einfall.
Darüber, dass auf der Bühne nur noch gesungen und nicht mehr, wie im normalen Leben, gesprochen wird, wundere ich mich wie immer nur kurz. Es dauert nicht lange, und ich glaube wieder, wir alle sollten uns immer nur singend unterhalten. Als das Licht einen Augenblick oder doch knapp zwei Stunden später zur ersten Pause wieder angeht, sehe ich, dass fast alle Männer im Publikum – die meisten haben graue oder weiße Haare oder gar keine mehr – sich ihrer Anzugsjacken entledigt haben, es ist einfach zu heiß, weiße Hemden überall im Saal, das Parkett sieht aus wie der Kontrollraum in Houston während der Mondlandung.
Es gibt einige Bayreuther Pausenrituale: Wir könnten uns an einen vorbestellten Tisch im Steigenberger-Festspielrestaurant setzen und genüsslich tafeln – wir haben allerdings nicht vorbestellt. Wir könnten, wären wir nur mit dem Auto gekommen und hätten uns besser vorbereitet, schnell zum Parkplatz hinter dem Festspielhaus hinaufeilen, eine Kühlbox hervorholen und diese zu einer der begehrten Bänke oder gleich auf die Wiese tragen, um dort mit Nudelsalat, belegten Broten und Champagner zu picknicken. Manche Festspielgäste picknicken auch gleich auf dem Parkplatz, in Abendgarderobe auf Campingstühlen oder am aufgeklappten Kombi-Kofferraum. Andere vernachlässigen die Nahrungsaufnahme erst einmal und wandeln in der gepflegten Grünanlage umher, um andere Umherwandelnde zu beobachten. Wir vertreiben uns die Zeit mit Nationalitätenraten: Woher mag das Paar dort drüben nach Bayreuth gekommen sein? War einst nicht sogar der Kaiser von Brasilien in Bayreuth? In der Reihe vor uns sitzt eine Irin, neben uns Katalanen und hinter uns zwei Mexikaner. Eine Französin, deren Zugfahrt nach Bayreuth fünfzehn Stunden gedauert hat, haben wir schon im Kartenbüro kennengelernt.
Traditionell beginnen die Vorstellungen in Bayreuth um 16 Uhr, wenn nicht Der Fliegende Holländer oder Das Rheingold gespielt werden, gibt es immer zwei jeweils einstündige Pausen. Das Publikum hat also viel Zeit, umherzustolzieren, aneinander vorbeizugockeln und die Mobiltelefone vorzuführen; ja, es scheint fast so, als sei ein Großteil des Publikums überhaupt nur gekommen, um dem Handy das Festspielhaus und die Fanfaren-Blechbläser zu zeigen, die vom Balkon herab das Ende der Pause verkünden. Unter den Trompeten und Posaunen führen Erwachsene sich plötzlich wie Teenies vor südkoreanischen Boybands auf, die Eleganten und die weniger Eleganten in Wickelkleidern, Lederhosen oder weißen Smokingjacken. Letztere werden von meist älteren Herren getragen, die ich, ein Reflex, stets um eine Erfrischung bitten möchte, weil ich sie auf den ersten Blick für Kellner halte.
Die vermeintliche Prominenz, die sich während der ersten Tage der Festspiele versammelt, wir erkennen sie nicht – Angela Merkel und ihren Mann einmal ausgenommen. Wir erkennen nur die, die wir sowieso kennen: eine Berliner Literaturagentin, eine ehemalige Rundfunkintendantin, einen Berliner Schriftsteller, einen Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen und eine weitere Berliner Literaturagentin. Meine eigene.
Die Musik ist wieder da, als hätte ich sie keine Sekunde nicht gehört – aber sie war ja auch immer da, immer in mir, nicht wahr? Hat mein Vater sie mir nicht schon vorgesungen? Behauptet er nicht manchmal sogar, ich hätte meinen Vornamen nach einer Figur aus den Meistersingern? Die Musik klingt so vertraut, sie passt in jede Schramme und jede Wunde, sie schließt und öffnet, legt sich in und über alles, erfüllt und kitzelt und streichelt den Schmerz, an den sie erinnert – ach ja, deshalb bin ich hier, deshalb sitze ich in dieser Höllenhitze. Nein, ich schwebe.
Es ist so schwer, über Musik und ihre Wirkung zu sprechen. Ich weiß nur, ich schwebe fast sechs Stunden und möchte gar nicht mehr hinaus, es stört mich nicht, dass der zweite und dritte Aufzug dieser Meistersinger-Inszenierung nicht auf der Gasse, in Sachsens Schreibstube und auf der Nürnberger Festwiese (dem Zeppelinfeld?), sondern in einem Nachbau des berühmten Schwurgerichtssaals spielen – was bei einer Oper, die »Nürnberg« im Titel führt und so viel zum Deutschen zu sagen hat, ja fast ein wenig zu nahe liegt. Schwurgerichtssaal, Villa Wahnfried und das Festspielhaus selbst, in dem wir schwitzen, sind aber nun mal sehr deutsche Orte, und die Meistersinger spielen die Musik dazu, die Musik, die Nietzsche in seiner Abrechnung mit Richard Wagner »etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes« genannt hat. Tja.
Sonntag, 28. Juli 2019
Wir frühstücken mit meiner Cousine und ihrem Mann im Garten, später kommt meine Tante dazu. Mitten auf dem Rasen hat der Mann meiner Cousine damit begonnen, aus alten, aus irgendeiner Ruine stammenden Sandsteinblöcken und -brocken eine Brunnenlandschaft aufzumauern, knorrige, aus Italien importierte Weinstöcke sind schon angewachsen. Auch eine Art Bühnenbild.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.