Galata
von David WagnerIch bin wieder in Verkins Stadthaus Suma Han, nicht weit vom viel fotografierten Galataturm. Verkin sitzt am Esstisch in der Ecke des großen Zimmers mit Aussicht und telefoniert. Ich bin wieder in Suma Han, in dessen Untergeschossen Verkins Vater, der Pionier, einst die ersten Schalter, Stecker und Lampenfassungen der Türkei produzierte, in dem Gebäude, in dem die erste türkische Bakelitpresse gearbeitet hat, weil es Verkins Vater gelungen war, die Lizenz zur Herstellung dieses frühen Kunststoffs für die Türkei zu erwerben, Spuren des Formaldehyds, das es für die Produktion von Bakelit braucht, müssten noch heute in den Kellermauern stecken.
Ich bin wieder in Suma Han, ganz oben im sechsten oder siebten Stock, Verkin hat die Wahl zur Muchtar gewonnen, und ich bin nach Istanbul gekommen, um ihr mit Hausmacher Leberwurst, Sauerkraut, Sachertorte und einem Buch über die deutsche Beteiligung am Völkermord an den Armeniern zu gratulieren.
Ich bin wieder im ehemaligen Gewerbehof Suma Han, in dem sich einst über hundert kleinere Handwerksbetriebe, Läden und Werkstätten befanden, verteilt auf sechs Stockwerke in zu den Fluren hin offenen Räumen, die nun zu Ateliers und Apartments umgebaut sind.
Ich bin wieder in Suma Han, der mit all seinen Handwerksbetrieben und Werkstätten einst so etwas wie eine Mall gewesen ist, ein Haus, in dem es zuging wie in einem Bienenstock, die untersten Stufen der Marmortreppe im Haus sind zentimetertief ausgetreten. Ich bin in dem Han, den die noch immer telefonierende Verkin während der letzten zehn Jahre in ein Kunst-, Wohn- und Kreativquartier verwandelt, sprich gentrifiziert hat, wozu sie alle Kleinbetriebe und Handwerker im Haus loswerden musste, von denen nicht wenige nach dem Tod ihres Vaters schlicht keine Miete mehr bezahlt hatten. Was wird die Tochter, die Frau, die Armenierin schon tun, hatten sie sich gesagt, weshalb Verkin sie bis auf eine Ausnahme von einem Rollkommando auf die Straße werfen ließ, nur ein Drahthändler durfte in seinem Abteil im ersten Stock bleiben, wo er noch heute jeden Tag zwischen seinen Gewindestangen, Schrauben, Kabeltrommeln und Metallstäben sitzt wie ein Wächter in einer Ausstellung. Es soll schon Besucher in Suma Han gegeben haben, die seinen Laden tatsächlich für ein Museum kaufen wollten.
Ich bin wieder in Suma Han in Galata, das über Jahrhunderte die Handelsniederlassung der Republik Genua und eine eigenständige Stadt war, welche die Eroberung von Konstantinopel einigermaßen und die Stadterneuerungen und Abrissorgien der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts weniger gut überstanden hat.
Ich bin wieder in Suma Han, der seinen Namen von einem verschwundenen Vorgängerbau hat, einem Han, in dem wahrscheinlich mit Gerbersumach gehandelt wurde, einer Variante des in der türkischen, arabischen und persischen Küche beliebten Gewürzes Sumach, welches, wie anderswo Salbei, für die Lederverarbeitung in den Gerbereien am nahen Ufer des Goldenen Horns wichtig war.
Ich bin wieder in Suma Han, in Verkins Wohnung mit Hamam auf dem Dach, der Wohnung mit Aussicht zur Altstadt auf der gegenüberliegenden Seite des Goldenen Horns und Blick auf das diesseitige Gassenlabyrinth mit seinen Hunderten Leuchten-, Lampen-, Kabel- und Elektrogeschäften, die sich in der Umgebung angesiedelt haben, weil Verkins Vater in Suma Han die türkische Elektroindustrie begründet hat.
Ich bin wieder in Suma Han, der Burg des Viertels, das nach der Arabischen Moschee in der Nachbarschaft Arap Camii heißt, das Viertel, in dem tagsüber an die hunderttausend Menschen arbeiten, so, wie es aussieht, fast nur Männer, aber kaum eine Seele wohnt, weil sich in allen Häusern, auch denen, die ursprünglich als Wohngebäude errichtet worden waren, auf jeder Etage Betriebe befinden, immer noch eine weitere Firma, die elektrische Bauteile, Lampen, Schalter oder Regler vertreibt oder herstellt, weshalb es auch kaum stört, dass im Keller von Suma Han der Club eröffnet hat, für den Suma Han heute berühmt ist, DJs aus der ganzen Welt legen hier auf.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.