Demokratisierung der Demokratie
von Philip ManowDemokratische Repräsentation war ursprünglich die Lösung für ein Problem, das Pöbel oder Menge hieß. Mit ihr ließen sich zwei Unterscheidungen zur gleichen Zeit vollziehen: die zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und die zwischen repräsentierbar und nicht repräsentierbar.1 Das aber etabliert zwei potentielle politische Bruchstellen. Einerseits den Verdacht, dass die Repräsentanten die Interessen der Repräsentierten vergessen oder vernachlässigen, oder diejenigen, die zu repräsentieren sie beauftragt sind, gar gänzlich verachteten. Aber es geht nicht nur um diese beständige Möglichkeit einer Repräsentationslücke – »representative government as we know it leaves open a ›gap‹ between governors and governed, so that despite being represented, the people remain outside« –,2 sondern auch andererseits um die Frage, was in der Demokratie als repräsentierbar eingeschlossen und was als nichtrepräsentierbar ausgeschlossen werden muss.
In dem neuen demokratischen Diskurs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird Volk zunächst eher als transzendentales Prinzip denn als konkretes Handlungssubjekt angerufen: »We the people«. Volkssouveränität ist erst einmal eine abstrakte Referenzgröße in einem politischen Legitimationsdiskurs, ohne dass schon eine genaue Vorstellung darüber besteht, wie sie konkret ausgestaltet werden sollte.3 Und hinter diesem abstrakten Legitimationskonzept verschwindet das konkret vorgestellte gemeine Volk, der Plebs oder der Pöbel, als politische Größe. Politische Abstraktion ersetzt soziale Konkretion, vor allem weil ja mit Volk in etwa Nation gemeint war, und keine bestimmte Gesellschaftskategorie: »The people are not the rabble but are constituted of all the inhabitants of the land.«4 In Artikel 7 der französischen Verfassung von 1793 heißt es erläuternd: »Le peuple souverain est l’universalité des citoyens français.« Das antwortete auf die Vorbehalte gegenüber the rabble. Der Volksbegriff spaltet sich also, im Zuge der Durchsetzung der demokratischen Idee, im 18. Jahrhundert in zwei Konzepte – ein niedriges: Pöbel, ein hohes: Nation.
Schon bei Jean Bodin gab es ein peuple en corps, Träger der Souveränität, und ein menu peuple, also schlicht eine Gemengelage, »das gemeine Volk, das von der politischen Macht auszuschließen die Weisheit nahelegt«,5 und auch bei Thomas Hobbes findet sich die Entgegensetzung aus multitudo (crowd) und der durch Repräsentation bewerkstelligten Einheit. Im Übergang von der alten Ordnung in die neue Gesellschaft ist das ein zentrales Problem. In Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik von 1774 ist die unbedingt für notwendig erachtete Absonderung des Pöbels vom Volk noch in der Begrifflichkeit der Standesgesellschaft gedacht. Dem Pöbel, sozusagen dem Pöbelstand, wird nämlich zunächst noch ein Platz in der Ständeversammlung zugewiesen, wenn auch am Narrensaum: »Wir muͤssen auch, weil dieses einmal nicht zu aͤndern ist, Poͤbel unter uns dulden. Dieser hat sich fast auf jedem Landtage uͤber seine Benennung beschwert. Man hat ihm zu seiner Beruhigung verschiedne andre Benennungen angeboten als: Das geringe Volk, der grosse Haufen, der gemeine Mann; aber er hat damit nie zufrieden seyn, sondern immer: Das grosse Volk heissen wollen […] Er hat keine Stimme auf den Landtagen; aber ihm wird ein Schreyer zugelassen, der so oft man nach einer Stimmensamlung ausruht, seine Sache recht nach Herzens Lust, doch nur eine Viertelstunde lang, vorbringen darf. Er ist gehalten einen Kranz von Schellen zu tragen. Nach geendetem Landtage wird er allezeit Landes verwiesen.« Dass der Pöbel schreit, ist eine übereinstimmende Charakterisierung, und deswegen darf er keine Stimme erhalten, sondern ihm wird höchstens etwas Zeit zum folgenlosen Ausagieren eingeräumt.
Bei Hegel ist das Problem dann schon in der Begrifflichkeit der Arbeit gefasst, also in den Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft gestellt. Die politische Trennung zwischen Pöbel und Volk wird hier ökonomisch begründet: »Die bürgerliche Gesellschaft spaltet sich in jene, die in ihr ihre Arbeit und ihren Platz in einem Stand finden und in jene, die bloße Privatpersonen sind; die Privatpersonen spalten sich in Arme und … [Reiche]; die Armen spalten sich in Arme und armen Pöbel.«6 Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, also genau zu der Zeit, als sich politisch der positive Volksbegriff als Nation etabliert, setzt sich zunächst diese Definition durch: Pöbel ist, was »außerhalb der Ehren der Arbeit« steht. »Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben«, heißt es dann später auch bei Nietzsche. Der Pöbel ist das, was der »Arithmetik des Tauschs entwischt« (Rancière) und damit dem zentralen Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft – der Arbeit – widerspricht und sie dadurch in Frage stellt. Ob bei Hegel oder bei Sieyès, die Betonung der Arbeit dient der doppelten Delegitimierung der alten Ordnung, nach oben wie nach unten – armer, reicher Pöbel, weil das Bürgertum sich als allein produktiv darstellen kann.
Die Abwertung des Pöbels als außerhalb der Ehre der Arbeit stehend lässt jedoch auch die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft manifest werden und verdichtet sich schließlich zur politischen Bedrohung. Die bürgerliche Gesellschaft beruht auf Arbeit, kann sie aber nicht jedem bieten. Werner Conze referiert Hegel: »Damit aber entstehe ein Unrecht. Der Pöbel, der durch eigene Arbeit seinen Unterhalt nicht mehr gewinnen könne, fordere ihn nun als ein Recht«.7 Anders formuliert: Der Pöbel ist die Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die noch widersprüchlich in sie hineinragt, in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu integrieren ist, sich dieser Geschichtsschreibung verweigert.8 So auch bei Marx: »Das Lumpenproletariat ist die passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft« (MEW 4). Anfang des 19. Jahrhunderts ist das die »blutende Wunde« der Gesellschaft, der Pauperismus – ein zudem aufgrund der starken »unterständischen Vermehrung«, sprich durch mangelnde Geburtenkontrolle, die ja die ständische Gesellschaft durch Heiratsverbot noch zu leisten vermochte, »wuchernder Pöbel«,9 der sich zu einer sozialrevolutionären Gefahr zu entwickeln schien.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.