Heft 857, Oktober 2020

Mit Kanzlisten gegen Kanzlisten denken

von Philip Manow

1914 schrieb Franz Kafka die Erzählung Vor dem Gesetz, das einzige zu Lebzeiten (1915) veröffentlichte Fragment des Proceß-Romans. Die bekannte Legende, Teil der einleitenden Schriften in das Gesetz, wie uns Kafka versichert, handelt von dem »Mann vom Lande« und vom Türhüter, der ihm den Eintritt in das Gesetz verwehrt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbots hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.«

In seiner 1914 veröffentlichten Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen schreibt Carl Schmitt: »Kein Gesetz kann sich selbst vollstrecken, es sind immer nur Menschen, die zu Hütern der Gesetze aufgestellt werden können, und wer selbst den Hütern nicht traut, dem hilft es nichts, ihnen wieder neue Hüter zu geben.«1 Sollte der Doktor der Rechte Franz Kafka, der 1906 an der Prager Universität promoviert wurde, auch später noch gelegentlich in der rechtswissenschaftlichen Bibliothek der Universität oder der Lese- und Redehalle deutscher Studenten vorbeigeschaut haben? Ein juristisches Buch mit diesem Titel – zumal von einem Autor, der zwei Jahre zuvor ein Buch mit dem Titel Gesetz und Urteil veröffentlicht hatte – hätte sicherlich Kafkas Neugierde geweckt, zumal er gerade am Proceß-Roman saß.

Kafka könnte in Schmitts Schrift auf zahlreiche weitere elektrisierende Sätze gestoßen sein. Etwa auf den vom Individuum, das »als empirisches Einzelwesen verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe, Recht zu verwirklichen, erfaßt zu werden und selbst seinen Sinn […] und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren eigenen Normen zu empfangen«.2 Oder auf den Satz vom Recht als »überempirische Macht, die das Empirische ihren Zwecken dienbar macht«. Auf: »nur das Urteil ist juristisch interessant, nicht die Hinrichtung« beziehungsweise: »Das richtigste Urteil ist nicht das, welches am gründlichsten vollstreckt wird.« Er wäre bei Schmitt auch auf den Hinweis auf die Beamtenhierarchie des Rechts gestoßen, »in der der unabhängige Richter in einer höheren, ganz anders gearteten Sphäre steht, als der huissier« als Hinweis auf einen weiteren Türsteher des Rechts [von »huis«, aus »ustium« oder »ostium«: Tür]. Oder auf den Satz, dass die Kontinuität des »Individuums, das im Staate lebt, nur aus dem Staat [fließt]«, oder auf: »der Staat als Macht und daher als Nicht-Recht steht dem Recht gegenüber, um es zu verwirklichen«. Und dann schließlich ganz am Ende des Buchs auf das im letzten Satz evozierte gewaltige und rätselhafte Abschlussbild von den Gewässern, die »alle schließlich im Meere enden, um in dessen Unendlichkeit ihre Ruhe zu finden« – ein Satz, der sich selbst wie einer dieser enigmatischen Abschlusssätze Kafkas liest (»In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr«).3

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