Mit Kanzlisten gegen Kanzlisten denken
von Philip Manow1914 schrieb Franz Kafka die Erzählung Vor dem Gesetz, das einzige zu Lebzeiten (1915) veröffentlichte Fragment des Proceß-Romans. Die bekannte Legende, Teil der einleitenden Schriften in das Gesetz, wie uns Kafka versichert, handelt von dem »Mann vom Lande« und vom Türhüter, der ihm den Eintritt in das Gesetz verwehrt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbots hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.«
In seiner 1914 veröffentlichten Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen schreibt Carl Schmitt: »Kein Gesetz kann sich selbst vollstrecken, es sind immer nur Menschen, die zu Hütern der Gesetze aufgestellt werden können, und wer selbst den Hütern nicht traut, dem hilft es nichts, ihnen wieder neue Hüter zu geben.«1 Sollte der Doktor der Rechte Franz Kafka, der 1906 an der Prager Universität promoviert wurde, auch später noch gelegentlich in der rechtswissenschaftlichen Bibliothek der Universität oder der Lese- und Redehalle deutscher Studenten vorbeigeschaut haben? Ein juristisches Buch mit diesem Titel – zumal von einem Autor, der zwei Jahre zuvor ein Buch mit dem Titel Gesetz und Urteil veröffentlicht hatte – hätte sicherlich Kafkas Neugierde geweckt, zumal er gerade am Proceß-Roman saß.
Kafka könnte in Schmitts Schrift auf zahlreiche weitere elektrisierende Sätze gestoßen sein. Etwa auf den vom Individuum, das »als empirisches Einzelwesen verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe, Recht zu verwirklichen, erfaßt zu werden und selbst seinen Sinn […] und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren eigenen Normen zu empfangen«.2 Oder auf den Satz vom Recht als »überempirische Macht, die das Empirische ihren Zwecken dienbar macht«. Auf: »nur das Urteil ist juristisch interessant, nicht die Hinrichtung« beziehungsweise: »Das richtigste Urteil ist nicht das, welches am gründlichsten vollstreckt wird.« Er wäre bei Schmitt auch auf den Hinweis auf die Beamtenhierarchie des Rechts gestoßen, »in der der unabhängige Richter in einer höheren, ganz anders gearteten Sphäre steht, als der huissier« als Hinweis auf einen weiteren Türsteher des Rechts [von »huis«, aus »ustium« oder »ostium«: Tür]. Oder auf den Satz, dass die Kontinuität des »Individuums, das im Staate lebt, nur aus dem Staat [fließt]«, oder auf: »der Staat als Macht und daher als Nicht-Recht steht dem Recht gegenüber, um es zu verwirklichen«. Und dann schließlich ganz am Ende des Buchs auf das im letzten Satz evozierte gewaltige und rätselhafte Abschlussbild von den Gewässern, die »alle schließlich im Meere enden, um in dessen Unendlichkeit ihre Ruhe zu finden« – ein Satz, der sich selbst wie einer dieser enigmatischen Abschlusssätze Kafkas liest (»In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr«).3
Schmitts Bemerkung (in Legalität und Legitimität), dass die Hierarchie des Gesetzes letztlich nicht eine »Hierarchie der Normen, sondern nur eine Hierarchie konkreter Menschen und Instanzen« sei,4 erscheint wie eine Schreibanweisung, zu der der Proceß-Roman die halb paranoide, halb satirische Ausarbeitung liefert. Die Bemerkung findet im Roman ihr Echo in dem Hinweis K.s auf die »große Organisation«, die sich hinter jeder Äußerung des Gerichts befindet, eine Organisation, die »nicht nur bestechliche Wärter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigen Falls bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem zahllosen unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern«. Wobei bei Kafka diese Personalisierung des Rechts in »unendlichen«, unübersehbaren »Rangordnungen« und »Steigerungen« schließlich als Endpunkt die Möglichkeit der völligen Umkehrung dieses vielstufigen Subordinationsverhältnisses eröffnet: »Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen.« Auch für Schmitt verstand sich die Personenhierarchie des Rechts nicht von selbst: »Das Subordinationsverhältnis [zwischen Richter und huissier] mußte, solange es nicht als Ausstrahlung des rein gedanklichen Verhältnisses der Überlegenheit des Richters über die Macht erkannt war, deshalb mit einer gewissen Verwunderung bemerkt werden, weil auch das Exekutionsorgan eine staatliche Befugnis, ein Imperium, hat und ein tatsächlicher Grund seiner Inferiorität nicht angegeben werden kann.«
Die Vollstreckung könnte schließlich das Urteil obsolet werden lassen, eine Vorstellung, die in der zur gleichen Zeit entstehenden Strafkolonie-Erzählung ihre grausame Ausführung findet – und die sich wie die exakte literarische Umkehrung der juristischen These Schmitts liest: Dasjenige Urteil ist das richtigste, das am gründlichsten vollstreckt wird. Ein Urteil wird ja auch im Proceß-Roman nie ausgesprochen, sondern am Ende in einem abgelegenen Steinbruch nur einfach und elendig vollzogen. Dies bezeichnenderweise eben nicht als Urteil, sondern – völlig schmittianisch – als reine Entscheidung: »Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte die Finger. Aber an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herren, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. ›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«
»Das, woran sich die juristische Entscheidung legitimiert, liegt nicht vor ihr«, so schreibt Carl Schmitt schon in Gesetz und Urteil (1912), etwa als positives Gesetz, sondern ist erst – mit Hilfe des positiven Gesetzes – durch die juristische Entscheidung selbst zu bewirken, aber womöglich auch ganz ohne Gesetz, wenn es »sich ausschließlich darum handelt, überhaupt eine, gleichgültig, was für eine Entscheidung zu geben«. Also eine Entscheidung, die sich durch ihren Vollzug legitimiert und dadurch, dass sie dazu autorisiert ist, getroffen zu werden, durch jemanden getroffen wurde, der »zuständig«5 ist und deswegen auf das Urteil verzichten kann: »Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen.«
Der starke Eindruck eines Bezugs zwischen diesen Texten, auch wenn er allein das Resultat ihres späten Zusammenlesens sein sollte, kann sich zumindest auf die weitreichende Übereinstimmung in der Fragestellung berufen. Die Einsicht, dass sich die Gesetze nicht selbst vollziehen, reflektiert bei Kafka wie bei Schmitt die Erkenntnis, dass sich die Geschichte nicht mehr als Selbstvollzug der Vernunft verstehen lässt. »Die Entscheidung wird ›selbständig‹, weil der normative und der geschichtliche Horizont dieser Welt sich verflüchtigt haben.«6 Aber was ist das Fundament des Gesetzes, wenn es die Religion nicht mehr ist und die demokratische Politik es noch nicht sein kann?
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.