Heft 891, August 2023

Der Geist der Gesetze

von Philip Manow

Contested concepts

1956 veröffentlichte der Philosoph Walter B. Gallie den vieldiskutierten und bis heute immer wieder zitierten Aufsatz Essentially Contested Concepts.1 Die darin entwickelte Kernthese besagt, dass bestimmte notorisch umstrittene Großbegriffe – als Beispiele dienen »Kunst«, »Demokratie« und »soziale Gerechtigkeit« – zwangsläufig auf ewig umstritten bleiben werden. Nach Gallie ist das kein Zufall, sondern hat mit wesentlichen Eigenschaften dieser Begriffe zu tun, etwa mit hoher Komplexität, einem engen Wertebezug oder auch historischer Offenheit. Die Hoffnung, irgendwann einmal, wenn man nur lange und systematisch genug nachgedacht und miteinander geredet hat, zu einer konsensuellen Klärung ihrer Bedeutungsgehalte zu kommen, muss folglich illusorisch bleiben.

Liest man den Aufsatz vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenliteratur erneut, muss eigentlich überraschen, dass Gallie bei der Aufzählung der Gründe, weshalb umstritten bleiben wird, was die Demokratie ihrem Wesen nach ausmacht, den vielleicht wichtigsten gar nicht anführt: nämlich political contestation, das heißt contestation for power. Ist doch schnell einsichtig, dass unterschiedlichen Sprecherpositionen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie plausibel werden. Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit.2 Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.

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