Heft 891, August 2023

Der Geist der Gesetze

von Philip Manow
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Contested concepts

1956 veröffentlichte der Philosoph Walter B. Gallie den vieldiskutierten und bis heute immer wieder zitierten Aufsatz Essentially Contested Concepts.1 Die darin entwickelte Kernthese besagt, dass bestimmte notorisch umstrittene Großbegriffe – als Beispiele dienen »Kunst«, »Demokratie« und »soziale Gerechtigkeit« – zwangsläufig auf ewig umstritten bleiben werden. Nach Gallie ist das kein Zufall, sondern hat mit wesentlichen Eigenschaften dieser Begriffe zu tun, etwa mit hoher Komplexität, einem engen Wertebezug oder auch historischer Offenheit. Die Hoffnung, irgendwann einmal, wenn man nur lange und systematisch genug nachgedacht und miteinander geredet hat, zu einer konsensuellen Klärung ihrer Bedeutungsgehalte zu kommen, muss folglich illusorisch bleiben.

Liest man den Aufsatz vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenliteratur erneut, muss eigentlich überraschen, dass Gallie bei der Aufzählung der Gründe, weshalb umstritten bleiben wird, was die Demokratie ihrem Wesen nach ausmacht, den vielleicht wichtigsten gar nicht anführt: nämlich political contestation, das heißt contestation for power. Ist doch schnell einsichtig, dass unterschiedlichen Sprecherpositionen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie plausibel werden. Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit.2 Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.

Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung. Seit einiger Zeit behaupten die, die Gewaltenteilung sagen, darüber hinaus auch, dass Volkssouveränität alleine ja noch keine wirkliche Demokratie ausmache – sondern, ganz im Gegenteil, von ihr eigentlich eine besondere Gefährdung der Demokratie ausgehe. Die vorherrschende Diagnose ist heute eine der elektoralen Selbstgefährdung der Demokratie: »While liberal democracy in the early 1990s may have appeared a climax, if not the end of history, it is now widely perceived as being in the grip of a crisis from within. It is through elections, the process most closely associated with the democratic system, that the danger most often arises.«3 Demokratien sterben, aber sie werden nicht getötet, sondern begehen Selbstmord – so die dominante Deutung unserer gegenwärtigen Lage: »democratic backsliding today begins at the ballot box«.4

Will man den suicide of democracy verhindern, ist es so gesehen geboten, sie vor sich selbst zu schützen. Die Demokratie, heißt es daher, ließe sich vor allem durch die Abschwächung ihrer elektoralen Elemente retten – entweder durch die Einschränkung des Wahlrechts5 oder durch die Abwertung von Wahlen und die Aufwertung deliberativer Elemente – oder durch den Schutz, den nichtdemokratische Institutionen der Demokratie gegenüber dem Demos angeblich gewähren würden. Colin Crouch blickt nach über zwanzig Jahren zurück auf seine Diagnose der Postdemokratie: »Another lesson, which I had not appreciated when I wrote my 2001 book, is the importance of those institutions of the state, which are themselves not democratic, but which protect us from abuse of democracy by leaders claiming that the fact of their election entitles them to act as they please: law courts, independent central banks, independent information and statistical services, various audit and surveillance agencies.«6

Für einen sich selbst als dezidiert links verstehenden public intellectual liegt jetzt also der Schlüssel zur Rettung der Demokratie dort, wo sich seit den 1980er Jahren die Lieblingsfeinde der Linken organisierten: in der unabhängigen Zentralbank. Selbst das bekannte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird so unter der Hand zum demokratischen Vorteil. Das Motto der Gegenwart scheint zu lauten: Weniger (elektorale) Demokratie wagen – vielleicht ja nur ein wenig weniger.7

Sind das nur Reflexe einer Demophobie, wie sie Gertrude Lübbe-Wolff jüngst beschrieben hat?8 Beruhen sie auf einer strukturellen Veränderung des demokratischen Arrangements von Mehrheitsbildung und konstitutionellen restraints? Oder hängen sie vor allem mit einer veränderten diskursiven Beschreibung von Demokratie, mit der Sprecherposition der Demokratietheorie zusammen? Die Frage stellt sich, weil die Argumente für starke institutionelle Beschränkungen des Mehrheitswillens normativ recht unbedarft erscheinen.9 Worauf gründet sich eigentlich die Vorstellung, man müsse das Majoritäre nur mit allerlei nonmajoritären Institutionen um- und zustellen, dann würden sich Interessenausgleich, Gerechtigkeit und Stabilität schon von selbst ergeben? Genau das, was Crouch emphatisch begrüßt, sehen ja viele als Ursache für den populistischen Protest, als Protest gegen die Aushöhlung der Demokratie, gegen die »Euthanasie der Politik« durch die Herausnahme aller möglichen Entscheidungsbereiche aus der Politik und ihre Überantwortung an nichtdemokratische Institutionen.10 Die Politik stirbt den guten, schönen Tod, sie stirbt am Guten und Schönen, für das man auch gar nicht mehr Mehrheiten mobilisieren muss, wenn man es auch einfach einklagen kann. Aber dass jeder ein Interesse hat, seine spezifische Vorstellung von Demokratie zu der Vorstellung von Demokratie zu machen, ist ja gerade der zentrale Grund für die prinzipielle Umstrittenheit des Konzepts.

Tatsächlich erscheinen die einschlägigen Debattenbeiträge geprägt von einer ermüdenden politischen Vorhersehbarkeit bei gleichzeitig überraschend hoher Bereitschaft zur argumentativen Inkonsistenz: Exemplarisch dafür ist die Wahrnehmung der Rolle von Verfassungsgerichten. Aus einer politisch progressiven Position heraus befürwortet man Roosevelts berühmte Drohung gegenüber einem marktliberalen Anti-New-Deal Supreme Court, applaudiert Roe vs. Wade, auf welch fragwürdige Art und Weise das Gericht – gerade im Vergleich mit dem epochemachenden Urteil der Bürgerrechtsära Brown v. Board of Education – auch immer seine Entscheidung damals begründet haben mag. Dann aber entdeckt man die demokratietheoretische Problematik weitreichender richterlicher Normenkontrolle just, sobald konservative Richter die Mehrheit im Höchsten Gericht stellen. Oder: »Israel’s Mapai (Labor) Party and its mainly secular Ashkenazi establishment constituencies opposed judicial review for decades but embraced constitutional supremacy once the country’s electoral balance shifted against it.«11

Solange die Arbeiterpartei die Geschicke des Landes exklusiv bestimmen konnte, behandelte sie die Frage nach einer Verfassung dilatorisch. Angesichts des Aufstiegs von Likud entdeckte sie dann, wie unerlässlich in einer Demokratie doch eigentlich eine verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens ist. Was heute, im Kontext der notorischen israelischen Justizreform, zu der bemerkenswerten Pointe führt, dass Netanjahus rechts-religiöse Koalition mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Hundertzwanzig-Sitze Knesset ein neues Grundgesetzkapitel verabschiedet hat, das erlaubt, Beschlüsse des Supreme Court mit einfacher parlamentarischer Mehrheit zu überstimmen, und der Supreme Court daraufhin ankündigt, dieses neue Grundgesetzkapitel auf der Basis eines in den 1990er Jahren mit einfacher Mehrheit verabschiedeten anderen Grundgesetzkapitels für verfassungswidrig erklären zu wollen.12

Hinter dem Skandal der Möglichkeit zum parlamentarischen override eines Verfassungsgerichtsurteils – der in anderer Form in Kanada seit einiger Zeit in Form der Nonwithstanding Clause in der Canadian Charter of Rights and Freedoms nichtskandalös geltendes Verfassungsrecht ist – steht aber in Israel nichts anderes als die historische Weigerung der israelischen Arbeiterpartei, so etwas wie eine Verfassung anders als in jeweils einzelnen Grundrechtskapiteln mit einfacher Knesset-Mehrheit zu verabschieden.13 Oder: Deutsche Europarechtler und die EU-Kommission fordern nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB, dass die Bundesregierung Karlsruhe auf Linie zu bringen habe, weil ein gegenüber einer integrationseuphorischen Bundesregierung unabhängiges Bundesverfassungsgericht ein von einer integrationsskeptischen Regierung mittlerweile abhängiges polnisches oder ungarisches Verfassungsgericht ja womöglich auf dumme Gedanken bringen könnte:14 Tod der Gewaltenteilung im Dienste eines heroischen politischen Kampfes gegen eine getötete Gewaltenteilung!

Constitutional conflicts

Das normative Argument bleibt schematisch: In einer majoritären Lesart muss der Rechtsstaat gar nicht einer Mehrheit dauernd von außen aufgezwungen werden – was ohnehin machtpolitisch wenig nachhaltig wäre. Die rechtliche Selbstbindung liegt in der Demokratie eigentlich im Eigeninteresse der Mehrheit. In der Demokratie ist jede politische Mehrheit (Minderheit) nur eine Mehrheit (Minderheit) auf Zeit, und die Selbstbeschränkung derjenigen, die momentan an der Macht sind, kann man als eine Versicherung für die Zeit verstehen, wenn sie es einmal nicht mehr sind. Das ist die insurance theory of judicial independence, es geht um die Verringerung politischer Unsicherheit. Was du nicht willst, das man dir tu … Nebenbei bemerkt: Erst dann, wenn politische Entscheidungsmehrheiten beständig über gesellschaftliche Minderheiten bestimmen, fangen Argumente für die starke verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens an, überzeugen zu können. Das beträfe etwa für lange Zeit das Problem des Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft und sicherlich auch das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis (ist aber ansonsten viel seltener, als es die Rede von der Tyrannei der Mehrheit suggeriert).

Rechtsstaatlichkeit in Demokratien ist, wenn sie stabil ist, politisch endogen stabil. Das ist allein schon deswegen ein ernst zu nehmendes Argument, weil eines ihrer exogenen Stabilität schwer zu machen ist, will man nicht auf diffuse Konzepte demokratischer Werte abheben,15 die mal internalisiert, mal nicht internalisiert sind – und wenn sie es nicht sind, durch Staatsbürgerkunde, Erinnerungsorte der Demokratie und Steinmeier-Reden, also durch zivilreligiöse Fundierung per präsidialer Selbstergriffenheit, in die Leute hineingetrichtert werden müssen. Aber wie sollte in unseren positivistischen Zeiten das Rechtliche nicht im Schatten des Politischen stehen? Schließlich wird als Voraussetzung für die Folgebereitschaft der Politik gegenüber Verfassungsgerichten eine demokratische Kultur des Respekts gegenüber dem Eigenwert und der Eigenwürde des Rechts genannt. Aber wenn es diese Kultur gibt, braucht man Verfassungsgerichte nicht – und wenn es sie nicht gibt, nutzen sie nichts.

Die Populisten stehen im Ruf, Feinde einer starken rechtlichen Einhegung des Mehrheitswillens zu sein, sie sind skeptisch gegenüber der Vorstellung, das Rechtliche sei etwas Unpolitisches, Neutrales, das der Politik ganz unschuldig, wie von außen gegenübertrete.16 Das halten viele für skandalös. Mark Tushnet und Bojan Bugarič geben in einem neueren Aufsatz aber zu bedenken, ob Populisten nicht »a better understanding of law as such, that is as ultimately instrumental, than their critics« hätten.17 Solche Verschiebungen deuten darauf hin, dass der Populismus nicht eine von außen kommende Infragestellung des acquis constitutionnel ist, sondern der Konstitutionalismus sich selbst in den letzten Jahrzehnten von Grund auf verändert hat. Die globale Ausbreitung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtsprechung stehen im Zentrum dieser Transformation.

Solange Verfassungen tatsächlich die Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs festlegen, wie es die Theorie der Verfassung als Rahmenordnung will, und nicht zu einem Sammelsurium des Schönen, Guten, Wahren werden (»blueprint for the good society«; »medley of liberal values«)18 oder – wie im Vertragsrecht der Europäischen Union – der Konstitutionalisierung eines grenzüberschreitenden kapitalistischen Marktmodells dienen, reagieren politische Öffentlichkeiten üblicherweise sensibel auf Versuche der Regeländerung. Denn diese können als Hinweis dafür genommen werden, dass hier womöglich jemand den demokratischen Machtwechsel unwahrscheinlicher machen möchte. Das aber wäre in der Demokratie eine Entmachtung des Demos, und das können auch die nicht wollen, die sich zur momentanen Mehrheit rechnen. Denn sie wissen, dass andere Zeiten auch andere Politiken erfordern werden und dass ihre zukünftigen Präferenzen sich von ihren gegenwärtigen womöglich unterscheiden. Dafür möchte man zumindest die Möglichkeit offenhalten. Warum also sollte ich mein zukünftiges Ich entmündigen, warum sollte sich mein zukünftiges Ich freiwillig in die Gefangenschaft meines jetzigen begeben? Das ist auch der durchschnittlichen ungarischen Fidesz-Wählerin, dem durchschnittlichen türkischen AKP-Wähler nicht unbedingt eingängig zu machen.

Mit Blick auf den Umstand, dass der Angriff auf das israelische Verfassungsgericht heute eine andere öffentliche Reaktion hervorruft als die Entmachtung des ungarischen und polnischen Verfassungsgerichts 2010ff. und 2015ff., braucht man dann nicht sofort über die unterschiedliche demokratische Reife von Öffentlichkeiten zu spekulieren. Könnte es doch auch daran liegen, dass etwa das in den 1990er Jahren extrem aktivistische, aggressive, eine eigene Agenda verfolgende Verfassungsgericht Ungarns sehr viel weniger glaubwürdig als ehrlicher Hüter demokratischer Spielregeln erscheinen konnte. So oder so zeigt aber das israelische Beispiel, dass, wenn überhaupt, die Demokratie den Rechtsstaat rettet, und nicht etwa umgekehrt.

Die insurance theory of judicial independence verbleibt jedoch innerhalb der Logik regelmäßiger demokratischer Machtwechsel, und es wäre damit noch nicht geklärt, was den ganz außerordentlichen weltweiten Konstitutionalisierungsschub seit den 1990er Jahren erklärt, also die langfristige und grundsätzliche Verschiebung zwischen dem Majoritären und dem Nichtmajoritären, die damit vollzogen wurde. Immerhin ist sie es, die man mit guten Gründen für die gegenwärtige politische Unruhe zumindest mitverantwortlich machen kann. Eine naheliegende Erklärung fällt aus: Wenn Rechtsstaatlichkeit wesentlich als Resultat eines funktionierenden Parteienwettbewerbs zu verstehen ist, könnten ja aktuelle Defizite des Parteienwettbewerbs eventuell ihre Krise erklären. Aber durch Wahlen induzierte Machtwechsel sind seit 1980 nicht seltener geworden, eher im Gegenteil19 – obwohl ein solcher Rückgang nach den Diagnosen eines globalen Aufstiegs der Autokratien schon längst beobachtet hätte werden müssen.

Schon an dieser Stelle der Überlegungen lassen sich zwei Einsichten im Hinblick auf aktuelle Diskussionen über die Krise der Demokratie formulieren. Erstens: Skepsis ist angebracht, wenn immer wieder einmal behauptet wird, es gehe um die Verteidigung der Demokratie gegen ihre neuen Feinde. Grundsätzlich wäre jedes Mal zu fragen: um welche beziehungsweise um wessen Demokratie? Und zweitens: Die langfristigen Verschiebungen hin zu möglichst umfassenden institutionellen Beschränkungen des Mehrheitswillens unter der Grobzuschreibung und dem Passepartout »liberale Demokratie« scheinen von grundlegenderen Verschiebungen im politisch-sozialen Gleichgewicht von Gesellschaften zu zeugen, sie künden davon, dass hier ein Milieu seine Macht zur arrondieren versucht – ein Milieu, dessen weiterhin vorherrschende Kontrolle über die Deutung des Geschehens mit seiner abnehmenden Kontrolle über dessen Dynamik einhergeht. Seine Kategorien herrschen noch, aber sie tragen immer weniger zur Beherrschung der Lage bei.

Die Gründe dieser ebenso selbstbezogenen wie dysfunktionalen Beschreibungen wären zu ermitteln. Zu erkunden wäre, was sich längerfristig (und nicht nur im üblichen demokratischen Wechsel zwischen einer Regierung und einer Opposition) verschoben hat. Recht besehen müsste es also darum gehen, eine Politische Ökonomie der liberalen Demokratie zu entwickeln, die sich in gewisser Weise als notwendiges Komplement zu einer Politischen Ökonomie des Populismus versteht.20 Das würde auf die richtige und wichtige Anregung reagieren, sich doch nicht nur andauernd mit den neuen, echten oder eingebildeten, Verlierern zu beschäftigen, sondern auch einmal mit den Gewinnern, also den neuen, überaus sendungsbewussten Mittelklassen, mit deren politischem Projekt, aus dem heraus die neuen Zeitdiagnosen von den Selbstgefährdungen der elektoralen Demokratie überhaupt erst verstanden werden können.21 Es scheint aussichtsreicher und ergiebiger, sich mit den Prozessen gegenwärtiger politischer Normensetzung, Normierung, Normalitätsdefinition, mit den Normalitätsdefinierern zu befassen, mit den politischen Prämien auf den Besitz der Kategorisierungsmacht – aussichtsreicher jedenfalls als mit denen, die durch sie als Abweichler konstituiert werden. Denn die obsessive Beschäftigung mit Letzteren, die die Sozialwissenschaften seit nun fast zwanzig Jahren praktizieren, hat ja doch immer nur die vorherrschenden Abgrenzungen nachvollzogen und damit zertifiziert.

Conjurements

Rest, rest, perturbed spirit …

2015 hatte Cas Mudde in einem Meinungsbeitrag im Guardian mit dem Titel The problem with populism diesen als »illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus« bezeichnet, um sich dann im Weiteren aber ausschließlich mit dem Populismus und seinem mangelnden Liberalismus, nicht aber mit dem Liberalismus und seinem problematischen Verhältnis zur Demokratie zu beschäftigen.

Der Populismus ist ein Gegner der liberalen Demokratie – sagen Liberale, und dabei bleibt im Dunkeln, wo diese Gegner so zahlreich plötzlich herkommen. Die begriffliche Unschärfe, das Abstrahieren von jeder konkreten institutionellen Form, erlauben es zu unterschlagen, dass »die liberale Demokratie«, gegen die die Populisten protestieren, recht besehen nicht so viel älter ist als der Protest gegen sie selber – denn was den massiven Konstitutionalisierungsschub anbetrifft, ist das ein Vorgang, der sich wesentlich in den 1990ern vollzog. Was, ganz bequem aus einer bestimmten Perspektive, davon enthebt, darüber nachdenken zu müssen, ob die neue Ordnung den neuen Populismus nicht vielleicht erst hervorgebracht haben könnte. Mit dem Populismus ist der Liberalismus aber nicht mit seinem Gegner, sondern mit einem Gespenst, mit dem Geist der von ihm erstickten Politik, konfrontiert, der er doch einen so schönen, guten, so gerechten Tod bereitet hat – le spectre des lois.22

Die von der marxistischen Mutterkirche abgespaltene Hauntology-Sekte sollte man sich nicht ins Haus holen, wenn man auf Geisterjagd gehen will, denn sie jagt dem falschen Phantom nach.23 Die große liberale Landnahme der 1990er Jahre war nicht in erster Linie eine ökonomische,24 sondern eine politisch-konstitutionelle. Beziehungsweise dort, wo sie auch eine ökonomische war, also insbesondere in Europa, hatte sie die liberal-konstitutionelle Landnahme zu ihrer Voraussetzung, als Verlagerung von Steuerungskompetenzen im Dienste der enormen Intensivierung europäischer Marktintegration.25 Ein Gespenst geht um in Europa: der Populismus – so die gängige Diagnose. Dabei handelt es sich gar nicht um das problem with populism, sondern um das problem with liberalism, denn populism is the problem of liberalism. Aber das liberale Milieu ist ganz davon überzeugt: Man muss der Leiche nur etwas fester und etwas länger den Hals zudrücken, dann ist es sicher auch bald mit den politischen Spukerscheinungen und dem Wiedergängertum der Politik vorbei.

Anmerkungen

1

Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Nr. 56, 1955/1956.

2

Während ihr die Möglichkeit einer tyranny of the few im Regelfall keiner weiteren Erwähnung wert erscheint.

3

»In den frühen 1990er Jahren mag es so ausgesehen haben, als sei mit der liberalen Demokratie der Gipfelpunkt, wenn nicht sogar das Ende der Geschichte erreicht. Mittlerweile besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese Demokratie sich in einer schweren, durch eine innere Dynamik ausgelösten Krise befindet. Am häufigsten werden dafür Wahlen verantwortlich gemacht, also ausgerechnet das Verfahren, das man am engsten mit dem demokratischen System verbindet.« Christophe Pébarthe /Barbara Stiegler, Democracy and Neoliberalism. In: Electra, Nr. 19, Winter 2022/23.

4

Steven Levitsky /Daniel Ziblatt, How Democracies Die. What History Reveals About Our Future. New York: Penguin 2018.

5

Jason Brennan, Against Democracy. Princeton University Press 2016.

6

»Eine weitere Lektion, die ich noch nicht gelernt hatte, als ich mein Buch 2001 schrieb, betrifft die Bedeutung der staatlichen Institutionen, die selbst nicht demokratisch sind, uns aber vor dem Missbrauch der Demokratie durch Politiker schützen, die der Ansicht sind, allein die Tatsache, dass sie durch Wahlen an die Macht gekommen sind, berechtige sie dazu, nach Belieben zu handeln: Gerichte, unabhängige Zentralbanken, unabhängige Informations- und Statistikdienste, verschiedene Prüfungs- und Überwachungsstellen.« Colin Crouch, Post-Democracy and Civil Society. In: Electra, Nr. 19, Winter 2022/23.

7

Garett Jones, 10 % less Democracy. Why You Should Trust Elites a Little More and the Masses a Little Less. Stanford University Press 2020.

8

Gertrude Lübbe-Wolff, Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten? Frankfurt: Klostermann 2023.

9

Vgl. z.B. die Beiträge in Jeremy Waldron (Hrsg.), Political Political Theory. Essays on Institutions. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2016.

10

Peter Mair, Ruling The Void. The Hollowing Of Western Democracy. London: Verso 2013; Armin Schäfer /Michael Zürn, Die demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp 2021. Den Begriff »Euthanasie der Politik« selber übernehmen Schäfer und Zürn von Jan-Werner Müller (Das demokratische Zeitalter. Berlin: Suhrkamp 2013).

11

»Die israelische Mapai-Partei (Arbeiterpartei) und ihre überwiegend säkulare, dem Establishment zugehörige aschkenasische Wählerschaft lehnte jahrzehntelang eine richterliche Kompetenz zur Normenkontrolle ab, aber setzte sich ab dem Moment für sie ein, ab dem die politischen Mehrheitsverhältnisse sich zu ihren Ungunsten entwickelten.« Ran Hirschl, Constitutional Theocracy. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2010.

12

Um die israelische Justizreform besser zu verstehen vgl. auch Eva Illouz, Vom Paradox der Befreiung zum Niedergang der liberalen Eliten. In: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit (Berlin: Suhrkamp 2017).

13

Auch aus britischer Perspektive fällt es nicht so ganz leicht zu erklären, worin genau denn nun das besonders Ruchlose der israelischen Justizreform besteht: »There is a profound irony, for UK lawyers at least, in the reforms now being demanded by the ultra-nationalist coalition which is keeping Benjamin Netanyahu in office (and off the dock). These include shifting judicial appointments and promotions, at present made by a nine-member committee drawn from government, parliament, bench and bar, into the hands of politicians; restricting the power of the courts to declare legislation incompatible with the Basic Law; and reducing the advice given by the attorney general from its present near oracular status to that of contestable opinion. The irony is that the UK, with a constitution composed of common law, statute and convention, has an attorney general who is anomalously both the government’s independent legal advisor and one of its ministers; […] Until the creation in 2006 of a judicial appointments commission, all UK judiciary appointments were made in private by a politician, the lord chancellor. So far as concerns the possibility of judges striking down constitutionally offensive primary legislation, the UK Supreme Court earlier this year reiterated: ›The most fundamental rule of UK constitutional law is that Parliament, or more precisely the Crown in Parliament, is sovereign and that legislation enacted by Parliament is supreme‹ – a rule that would empower the Knesset at any time to do whatever it wants to the Basic Laws, without any need for new constitutional powers.« Stephen Sedley, Cloudy Horizon. Constitutional Business. In: London Review of Books vom 13. April 2023.

14

Franz C. Mayer, Der Ultra-vires-Akt. Zum PSPP-Urteil des BVerfG v. 5.5.2020 – 2BvR 859/15 u.a. In: Juristenzeitung, Nr. 75/14 vom 17. Juli 2020. Vgl. auch Droht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland? In: Legal Tribune Online vom 11. Mai 2020 (www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-urteil-ezb-eugh-ultra-vires-anleihekaeufe-vertragsverletzungsverfahren-deutschland-kommission-polen/).

15

Christoph Möllers, Unsere Werte. In: Merkur, Nr. 883, Dezember 2022.

16

Wie bei allen anderen auch gibt es einen Opportunismus der Lage – starke verfassungsgerichtliche Kontrolle wird von den Populisten eher kritisch gesehen, wenn sie an der Macht sind, und positiv bewertet als Schutzinstrument der Minderheit, wenn sie von der Macht ausgeschlossen bleiben.

17

Mark Tushnet /Bojan Bugarič, Populism and Constitutionalism. An Essay on Definitions and Their Implications. In: Cardozo Law Review, Nr. 42/6, April 2020.

18

Martin Loughlin, Against Constitutionalism. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2022.

19

Andrew Little /Anne Meng, Subjective and Objective Measurement of Democratic Backsliding. Paper vom 17. Januar 2023 (papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4327307).

20

Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus. Berlin: Suhrkamp 2019.

21

Carsten Nickel, Das Trilemma des bürgerlichen Politikbegriffs – ein Essay. In: Berliner Debatte Initial, Nr. 2/2003.

22

Martin Loughlin schildert den ausgreifenden Prozess der Konstitutionalisierung von Politik »at the cost of eviscerating the modern idea of democracy«: nehmen /teilen /ausweiden.

23

The Advisory Circle (alias Cate Brooks) hat ein neues Album veröffentlicht, wie immer auf dem Label Ghost Box (!). Mit Full Circle schließt sich tatsächlich ein Kreis. Vgl. Mark Fisher, Ghosts of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures. Alresford: Zero Books 2014; Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Frankfurt: Suhrkamp 2003.

24

So wie es eine abundante und nicht sonderlich differenzierende Literatur über den Neoliberalismus will.

25

»Für was steht der Geist von Hamlets Vater? Schon vor einem Jahr stand er etwa für Stalin. Die Vaterfigur dieses Staates, der Geist von Europa. Dann ist die Frage, wer ist Fortinbras? […] entstanden ist jetzt, daß es nur geht mit der Stimme von Hamlet, daß Hamlet am Schluss Fortinbras wird. Kein Schauspieler spielt den Fortinbras. Nein, der Hamlet wird von dem Geist, der natürlich nicht mehr der Geist Stalins ist, sondern der Geist der Deutschen Bank, zu Fortinbras gemacht.« (Heiner Müller, Es war unvorstellbar – die Dummheit! [1990]. In: Werke, Bd. 11: Gespräche 2: 1987–1991. Frankfurt: Suhrkamp 2008). Es war aber vielleicht gar nicht in erster Linie (wenngleich natürlich auch) der Geist der Deutschen Bank.

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