Der gelehrte Stand
Die Akademiker verleugnen ihre Vergangenheit von Heinrich BosseDie Akademiker verleugnen ihre Vergangenheit
Nehmen Sie die Gurlitts zum Beispiel. Aus dem Halbdunkel des Hörensagens tauchen Mitte des 18. Jahrhunderts zwei schlesische Bauernsöhne auf, Brüder oder eher Vettern, nachweisbar in Leipzig. Der eine wird Bürger und Schneidermeister, der andere muss das halbe Bürgergeld schuldig bleiben und führt eine prekäre Existenz ohne Berufsangaben. Die Kinder des Schneidermeisters, Söhne wie Töchter, bleiben im Handwerk. Nur einer von ihnen, Johann Gottfried Gurlitt (1754 bis 1827), geht auf die Schola Thomana in Leipzig, studiert und gelangt als Direktor des Johanneums in Hamburg an die Spitze des Bildungswesens. Von den Söhnen des Halbbürgers geht einer nach Altona. Dessen Sohn Johann August Wilhelm (1774 bis 1855), Golddrahtzieher, wird brotlos, weil die Männer des napoleonischen Empire keine Tressen und die Frauen keine Goldgürtel mehr tragen wollen, doch gelingt es ihm schließlich, mit seinen »Gurlitt-Tropfen« den Apotheken Konkurrenz zu machen. Er kauft ein Klavier und bezahlt den zehn überlebenden Kindern (von achtzehn) aus zwei Ehen großzügigen Privatunterricht.
Der akademische und der bürgerliche Aufstieg sind zwei verschiedene Muster sozialen Aufstiegs. Johann Gottfried verlässt das Handwerksmilieu, um zu lernen, finanziert von seinem Vater, dem Schneidermeister. Er hätte gern auf der Universität als magister legens Privatvorlesungen in Leipzig gehalten, doch da stoppt der Geldzufluss. Er wird also ein Schulmann und Gelehrter, der versucht, um 1800 in Hamburg das preußische Abitur einzuführen (was endgültig aber erst mit der Reichsgründung 1871 gelang). Frau und Kinder hatte er nicht, dafür Ruhm und Ansehen bei Schülern und Lesern. Umgekehrt der Familienmensch Johann August Wilhelm. Auch er verlässt das Handwerk, aber aus Not, er probiert sich als Schreibmeister, Lebensmittelhändler, bleibt auf den Schulden sitzen, bis er als Hersteller und Lieferant der gutgehenden »Gurlitt-Tropfen« zuletzt sein eigener Unternehmer wird. Grob zusammengefasst: Den akademischen Weg nach oben muss jemand anderer bezahlen, den bürgerlichen Weg nach oben muss ich selbst erwirtschaften. Oben angekommen (Johann Gottfried G.) beziehungsweise in der Mitte angekommen (Johann August Wilhelm G.), sind beide wohlhabend.
Von den Söhnen Johann August Wilhelms errang Theodor Ruhm als Maler, Cornelius etwas weniger Ruhm als Musiker und Emanuel lokales Ansehen als Uhrmacher und Bürgermeister von Husum. Theodors Sohn, Dr. phil. Ludwig Gurlitt, beschrieb den Aufstieg der ganzen Familie in der Biografie seines Vaters (1912) als ein Zeichen familiärer Tüchtigkeit und sah mit Stolz auf die Reihe seiner Geschwister: zwei Professoren, er selbst als Gymnasialprofessor, ein Bankier, ein Kunsthändler, die alle aufs Gothaer Gymnasium gegangen sind; eine Schwester, die auf die Höhere Töchterschule ging. Willkommen im Bildungsbürgertum. Willkommen auch bei den Aufstiegsgeschichten, die den akademischen und den bürgerlichen Weg nach oben in eins zusammenwerfen. Fast alle Akademiker von heute könnten sie so oder ähnlich erzählen. Der Grund? Sie spielen alle in den letzten zwei oder drei Jahrhunderten und sind also synchron mit dem Aufblühen des Kapitalismus. Wir alle leben besser und länger als unsere Vorfahren, wir sind reicher, wir alle zehren vom exponentiellen Wachstum der Wirtschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.
Die aufgestiegenen Gurlitts haben »etwas Besseres« erreicht und dabei viel hinter sich zurückgelassen, die gestorbenen Kinder, jene schlesische Verwandtschaft der Pächter, Häusler und Tagelöhner, das städtische Handwerk, die vielen Allerweltsberufe. Was nicht erzählt wird: dass die Akademiker schon seit dem Mittelalter etwas Besseres waren, weil sie »das Privilegium der geistigen Arbeit« (Hofmannsthal) genossen und also, mit Brecht, zu den Herrschenden gehörten. Stattdessen bestärken uns die mythischen Geschichten darin, dass »wir alle zusammen« das Elend des Feudalismus hinter uns gelassen haben. Das Elend des armen Soldaten Ulrich Bräker aus dem Toggenburg, das Elend des armen Schülers Anton Reiser, von dem sein Autor, also er selbst, sagt, dass er in Wahrheit von der Wiege an unterdrückt war. Die Demütigungen eines Hofmeisters, der sich selbst kastriert (Lenz), oder die eines Sekretärs, der aus der adligen Abendgesellschaft vertrieben wird (Goethe).
Diese Geschichten sind wahr, aber auch mythisch, aus dem einfachen Grund, weil die Vergangenheit der bürgerlichen Akademiker nicht dieselbe ist wie die der bürgerlichen Bürger. Wenn die bürgerlichen Historiker uns den Weg aus der Vergangenheit in die Moderne erzählen, nach dem Muster der Familiengeschichte, verleugnen sie diesen historischen Unterschied. Und wozu sollten wir den kennen? Ich antworte: Es ist für uns, Akademiker oder nicht, notwendig zu wissen, dass wir nicht immer schon in dieser Welt der ökonomischen Unterscheidungen gelebt haben, die sich uns als historische Befreiung präsentieren. Der kapitalistische, also endlose Weg nach oben muss ein Fragezeichen bekommen. Hierzu möchte ich etwas über die lateinische Vergangenheit der Akademiker sagen, dann hören, was die Soziologen meinen, sodann die Ära der Rechtsungleichheit in Erinnerung rufen und im Gegensatz dazu das, was man heute sagt. Sollte die Gegenwart unserer Universitäten wirklich nichts zu tun haben mit der standesspezifischen Vergangenheit der Akademiker?
Wir alle wissen, dass Akademiker bessere Einkünfte haben als der Durchschnitt der Werktätigen. Und wir wissen natürlich auch, dass es damit nicht getan ist. Wer den Doktortitel begehrt, wo er nicht berufsnotwendig ist, nimmt die Einkünfte gerne mit, zumal in der freien Wirtschaft, aber in der Politik ist es vielleicht doch eher das Prestige, das angestrebt wird. Schließlich geht – nach einer Lebensarbeitszeit von vier bis fünf Jahren – der »Dr.« in den Namen ein, ein stets und überall sichtbarer Leistungs-, ja wohl gar Intelligenzbeweis. Im Mittelalter, als man die Universitäten erfand, fanden die neuen Doktoren, dass sie den Adligen mindestens ebenbürtig seien, und noch bis ins 18. Jahrhundert disputierten die Akademiker über Sinn und Unsinn der nobilitas literaria. So hat es fast den Anschein, als zerfalle der akademische Status in eine solide ökonomische Basis einerseits, Ruhm und Ansehen andererseits, ein windiger Überbau von Bewusstseinsphänomenen, Ansprüchen, Vorurteilen. Einmal wirtschaftlich empirisch, einmal ideologisch gesehen. Solch eine doppelte Hinsicht ist das selbstverständliche Vorurteil unserer kapitalistischen Gegenwart, ja, wenn wir Bruno Latour glauben wollen, die schlechte Gewohnheit der Moderne.
I.
Um dem zu entkommen, müssen wir uns wohl oder übel anhören, was die Zeitgenossen in der Vormoderne über den akademischen Status oder Stand zu sagen haben. Etwa der preußische Justizminister von Zedlitz, der 1777 über den Zustand der öffentlichen Schulen sprach, in der Berliner Akademie der Wissenschaften natürlich auf Französisch, aber 1781 wurde es übersetzt. Als echter Aufklärer begann Zedlitz mit den Vorurteilen, die der Verbesserung des Schulwesens im Wege stehen: »Das erste dieser Vorurtheile finde ich in der blinden Verehrung des gelehrten Standes. Seit der Zeit, wo der Name eines Gelehrten auf alle Weise adelte, und wo die vorzüglichsten Personen sich durch die Doktorwürde einen neuen Glanz zu geben glaubten, betrachtet man noch einen Menschen, der auf einer Universität gewesen ist, als ein Wesen von erhabenerem Range, als die andern. Daher kommts, daß eine jede Schule, wo man lateinisch lehret, Gelehrte zu bilden sich bemühet.« Statt einer Erziehung zum Gelehrten wünscht sich Zedlitz eine Ausbildung für alle, eine Nationalerziehung.
Die lateinische Sprache ist nicht nur ein Fach, das unterrichtet wird – sie ist das Medium, in dem unterrichtet wird. Sie verbindet die lateinische Schule mit der lateinischen Universität und erzeugt den Akademiker als denjenigen Menschen, der lateinisch zu sprechen und zu schreiben gelernt hat. Gelehrt ist einer, der Latein kann. Wer nicht Latein kann, ist eben ungelehrt; er mag so viel wissen und können, wie er will, sein Wissen und Können hat er nicht zehn Jahre und mehr an lateinischen Buchstaben und Texten (literae) entwickelt. Diese lateinische Lernzeit findet abseits der Alltagsberufe statt. Während alle anderen Jugendlichen spätestens ab vierzehn Jahren das, was sie im Leben brauchen werden, im Alltag der Erwachsenen zu lernen beginnen, zuhause auf dem Land, als Lehrlinge oder Kaufmannsdiener, als Pagen und Fähnriche, sind die Lateiner freigestellt von der Arbeitswelt, solange, bis sie die Universität verlassen. Das macht einen gewaltigen sozialen Unterschied.
Der soziale Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten – lateinisch: literati et illiterati – wird konstituiert durch zwei verschiedene Bildungssysteme, eins lateinisch, eins muttersprachlich. Beide Systeme, und zumal die Lücken zwischen ihnen, werden ergänzt teils durch Hausunterricht, teils durch einen unendlich vielfältigen Lehr- und Lernmarkt (siehe Johann August Wilhelm Gurlitt), teils schließlich durch Autodidaxe. Die pädagogischen Parallelwelten sind den Bildungshistorikern bisher nicht aufgefallen, weil sie das staatliche Bildungsmonopol mit seinen drei Abstufungen – Volksschule, Oberschule, Hochschule, wie man früher sagte – als selbstverständlich voraussetzen und von früheren Zeiten sagen, dieser Standard sei noch nicht erreicht.
Aber in der Frühen Neuzeit war die Ausbildung nicht mehrfach vertikal gegliedert, sondern horizontal und binär: in die zwei sprachlich unterschiedenen Systeme, die von ganz diversen Patronen nebst dem Landesherrn finanziert und kirchlich kontrolliert wurden. Der deutsche Unterricht auf dem Lande richtete sich vor allem auf kirchliche Bedürfnisse aus, erteilt wurde er von Küstern und Dorfschulmeistern. In der Stadt dagegen waren die Schreib- und Rechenmeister meist als Zunft organisiert, nahmen auch Schüler von auswärts an und publizierten ihr Wissen in Unterrichtsbüchern.
Die Studierten dagegen haben eine lateinische Vergangenheit. Als die Humanisten das mittelalterliche Bildungswesen reformierten, um die Antike wiederherzustellen, lösten sie ihre Schulen vom Kirchendienst und verpflichteten sie auf ein weltliches Bildungsideal: so gut Latein zu schreiben wie Cicero. Lateinische Autorschaft, das hat Friedrich Paulsen in seiner monumentalen Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten (1885) gezeigt, sollte bis weit ins 19. Jahrhundert von den Gymnasien der Welt geschenkt werden. Daher war auch jeder Autor, eo ipso jeder, ein Gelehrter, gleich in welcher Sprache er publizierte, er hat ja regelrechte Autorschaft (Rhetorik, Poetik) auf Lateinisch gelernt. Um 1700 war die Hälfte aller in Deutschland veröffentlichten Bücher noch lateinisch geschrieben; um 1700, so Jürgen Leonhardt in Latein – Geschichte einer Weltsprache, war Deutschland das lateinischste aller europäischen Zentralländer. Das kann für die Geschichte der Öffentlichkeit, ja für die Geschichte der Aufklärung nicht gleichgültig sein.
Jetzt, wo das Englische mehr und mehr an den Universitäten in Gebrauch genommen wird, jetzt beginnt man sich auch der Frage zu stellen, wie Deutsch im 18. Jahrhundert neben dem Latein zur Wissenschaftssprache wurde. Aber es geht nicht nur um Sprachgeschichte, es geht darum, einen regelrechten Kulturwandel in das kulturelle Gedächtnis aufzunehmen. Warum machte die Kaiserin Maria Theresia 1768 »die gründliche Erlernung ihrer Muttersprache« allen künftigen Staatsdienern zur Einstellungsvoraussetzung? Warum begann der Rat Johann Caspar Goethe sein Haushaltsbuch (Liber domesticus) im Jahr 1771 auf Deutsch zu schreiben, gerade als sein Sohn Wolfgang aus Straßburg zurückkehrte, wo er dreißig lateinische Thesen auf Lateinisch verteidigt hatte, um den Doktortitel führen zu dürfen? Unsere lateinische Vergangenheit, seien wir offen, haben wir vergessen und wollen wir weiter vergessen.
Das Lateinische hat eine Aura, die so etwas wie Kontaktscheu hervorruft. Das ist nicht nur der Geruch der Heiligkeit, der ihm als alte Kirchensprache zukommt, das ist auch nicht nur das Fluidum der Antike. Viele Schüler wissen, dass die Adligen im 18. Jahrhundert Französisch gesprochen haben, aber dass Lehrer und Schüler damals Latein miteinander gesprochen haben, das wissen sie nicht, und das sagt ihnen auch niemand. Wenn, sagen wir, der Dichter Mörike nicht will, dass die anderen im Wirtshaus mithören, was er mit seinen Studienfreunden zu besprechen hat, so wechselt er ins Latein. Wer Latein spricht, ist anderen unverständlich und zugleich überlegen, etwas »Besseres« eben. Latein dient dazu, einen Status zu markieren, eine soziale Superiorität anzudeuten, ob der Sprecher will oder nicht. Hierin wurzelt, so möchte ich behaupten, »die blinde Verehrung des gelehrten Standes«, von der Zedlitz sprach. Hierin zeigt sich die ständische Vergangenheit der Akademiker.
II.
Eine Fremdsprache als Standesmerkmal? Gewiss doch, ziemlich analog zum Arabischen, das als Religions- und Gelehrtensprache in vielen Teilen der Erde gebraucht wird. Allerdings hört man nichts von einer Sprache, wenn man sich nach den Ständen des Ancien Régime erkundigt. Die erste und häufigste Reihung lautet »Adel, Bürger, Bauern«. Sie ist offenbar nach Art und Ort der Arbeit gegliedert: Der Bauer arbeitet auf dem Feld, der Bürger in der Stadt und der Adel weiß Gott wo. Das ist so überzeugend, weil es unserer Standardgliederung in Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht entspricht. Die zweite Reihung wird oft aus Frankreich übernommen und lautet »Geistlichkeit (le clergé), Adel (la noblesse), Dritter Stand (le tiers état)«.